
Wenn das EU-Parlament an diesem Mittwoch über den «Digital Services Act» debattiert, ist das ein weiterer Schritt zu einem Grundgesetz für das Internet. Das ist eine schöne Formel für den europäischen Versuch, die Kräfte zu kanalisieren, die Plattformen wie Facebook oder Twitter, Chatdienste wie Whatsapp oder Telegram entfesselt haben. Mehr als hundert Vorschläge gibt es. Die Begrenzung personalisierter Werbung, die Transparenz der Algorithmen und die Nutzung der Daten gehören dazu.
Dabei geht es weniger um die Mehrheit der Posts und Nachrichten, die Alltag oder Ferienreisen dokumentieren, sondern vor allem um jene Botschaften, die sich mit Politik beschäftigen. Dazu zählt von der Pandemiebekämpfung über die Ukraine-Frage bis zur Beschäftigung mit Hautfarben und sexuellen Begierden derzeit sehr viel. Diese virtuellen «Debatten» kochen öfter mal über.
Nun hat sich die Wissenschaft bisher vor allem mit der Technologie und Ökonomie des digitalen Raums beschäftigt, weniger mit dessen Ethik. Deswegen fallen der Politik oft erst einmal technische Lösungen ein, um der destruktiven Kräfte im Internet Herr zu werden. Doch die Technologie dieser Plattformen an sich ist nicht das Problem.
Um mit dem Technophilosophen Kevin Kelly zu argumentieren: Es gibt so etwas wie Naturgesetze der Technologie. Wenn Reichweite und Werbung das Geschäftsmodell von sozialen Medien sind, fördern Algorithmen immer genau das Gegenteil des Status quo. In Autokratien sind das die demokratischen, in Demokratien eben die antidemokratischen Bewegungen. Studien bestätigen das.
Der Algorithmus unterscheidet dabei nicht, ob es sich um den Aufruf zum Freiheitskampf in Hongkong oder um eine Falschmeldung zur Pandemie handelt. Computerprogramme können nicht werten, nur auswerten. Widerspruch bis hin zu Hass und Hetze erzeugt eine stärkere Reaktion bei den Nutzern, als es freundliche Grüsse könnten. Darauf reagieren diese Maschinen. Technisch könnte man dem schon beikommen. Die Dienste müssten ihre Algorithmen neu einstellen.
Facebooks Mutterfirma Meta hat das schon getan und bei ihrem Chatservice Whatsapp Obergrenzen für die Weiterverbreitung von Nachrichten installiert. Auch Twitter bastelt an Mechanismen, Hass und Hetze zu bremsen. Ob diese Massnahmen wirklich weit genug gehen werden, ist fraglich. Bremsen und Sperren gefährden aber das Geschäftsmodell solcher Firmen.
Der «Digital Services Act» ist ein erster Vorstoss in die richtige Richtung. Ein Grundgesetz für das Internet ist allerdings ohne die Legislative in den USA unmöglich. Das dortige Mediengesetz und der erste Verfassungszusatz, der die Meinungsfreiheit sehr viel fundamentalistischer definiert als in Europa, schützen die Geschäftsmodelle der sozialen Medien weitgehend. Nur eine transatlantische Initiative kann das grundsätzlich ändern.
Wenigstens hat die EU in Joe Biden einen guten Partner. Der US-Präsident liess Kartellrechtler in Schlüsselpositionen berufen, die jung und brillant genug sind, um Regulierungen für das digitale Zeitalter zu entwerfen und diese auch durchzusetzen. Der legislative Weg jedoch wird viel Zeit brauchen. Die hat die Demokratie aber nicht. Denn neue Technologien wie die Blockchain-Verschlüsselung oder die Allgegenwärtigkeit digitaler Netze, die man etwas unbeholfen «Metaversum» und «Internet der Dinge» nennt, werden die sozialen Netzwerke bald schon zum Sperrmüll der Technologiegeschichte verdammen. Dann beginnt der Kampf von vorne.
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Kommentar zu sozialen Medien – Alles, was ihr Sünde nennt
Mit einem Grundgesetz für das Internet will die EU Hass und Hetze in den sozialen Netzwerken beikommen. Ein guter Plan – der aber ohne die Hilfe der USA nicht funktionieren wird.