Angela Merkel braucht Hilfe
Die deutsche Regierungschefin hat bisher jeden EU-Gipfel dominiert. Jetzt ist sie im Streit um die Migration auf die Hilfe der europäischen Partner angewiesen.

Es gibt immer Leute, die aus der Farbe von Angela Merkels Blazer versteckte Botschaften ablesen wollen. Gestern sorgte die Bundeskanzlerin für Aufsehen, weil ihr Oberteil praktisch die gleiche Farbe hatte wie die Trikots, in denen die deutsche Nationalelf gerade erst bei der Fussballweltmeisterschaft in Russland gegen Südkorea verloren hatte.
Vielleicht wollte die Bundeskanzlerin sich ja nur solidarisch mit ihrer Mannschaft zeigen. Aber auch für Angela Merkel könnte es der letzte Gipfel gewesen sein. Ganz ausgeschlossen ist das jedenfalls nicht. Klar werden dürfte das erst nach ihrer Rückkehr heute nach Berlin. Sie muss eine europäische Lösung im Streit Asyl und Migration mitbringen, weil sonst ihr Innenminister Horst Seehofer im Alleingang Asylbewerber an der Grenze zu Österreich zurückweisen lassen will und dann möglicherweise in Berlin die Koalition platzt.
Das Ultimatum der bayrischen Schwesterpartei CSU ist das Damoklesschwert, unter dem Merkel in Brüssel verhandelt. Es ist für die Bundeskanzlerin eine ungewohnte Gemengelage. Beobachter haben nachgezählt, dass sie in ihrer knapp 13-jährigen Amtszeit an 75 Gipfeltreffen teilgenommen haben muss. Als Europas heimliche Königin hat die Christdemokratin am ovalen Tisch im fensterlosen Ratsgebäude und bei den bilateralen Gesprächen in den Seitengängen stets die Fäden gezogen. Jetzt hängt erstmals ihr politisches Überleben zu Hause womöglich vom Goodwill ihrer europäischen Partner ab.
Angela Merkel braucht Hilfe. Das gab es so noch nie. Auf wen kann die Bundeskanzlerin zählen, und wer setzt insgeheim auf das Ende der starken Frau? So klar war das gestern nicht. Schliesslich gibt es viele offene Rechnungen. Ungarns Viktor Orban oder auch der Österreicher Sebastian Kurz haben die deutsche Regierungschefin in der Migrationspolitik schon herausgefordert. Doch auch sie dürften am Ende ein Interesse haben, den kontrollfreien Schengen-Raum zu retten und gemeinsames Handeln zu demonstrieren. Für andere wäre eine Neuwahl in Deutschland auch sonst ein unkalkulierbares Risiko.
Italien hat Druck aufgebaut
Darüber hinaus war vorerst unklar, mit welcher Trophäe Merkel heute nach Berlin zurückkehren könnte. Der Entwurf der Gipfelschlussfolgerungen trug jedenfalls nicht ihre Handschrift. Dort war vor allem die Rede vom besseren Schutz für die Aussengrenze und davon, dass die Grenzbehörde Frontex personell kräftig aufgestockt werden soll. Aufgeführt sind auch die umstrittenen Anlandepunkte oder «Ausschiffungsplattformen» in Nordafrika, zu denen im Mittelmeer gerettete Bootsflüchtlinge künftig gebracht werden sollen.
Nicht nur Angela Merkel hat da Zweifel, ob das rechtlich und praktisch überhaupt möglich ist. Italien hat mit der Weigerung, Schiffe in seinen Häfen einlaufen zu lassen, Druck aufgebaut. Auch gestern Abend drohte Italiens Regierungschef Giuseppe Conte, die Schlusserklärung heute per Veto zu blockieren, sollte auf seine Forderungen nicht eingegangen werden. Bisher hat sich allerdings noch kein Land in Nordafrika bereit erklärt, die geretteten Migranten stattdessen aufzunehmen.
Diese Anlandezentren oder Plattformen änderten alles, warb der Österreicher Kurz für die Pläne. Solche Schutzzonen machten es weniger attraktiv, sich überhaupt illegal auf den Weg übers Meer zu machen. Das wiederum werde die derzeitige Überforderung Italiens und Griechenlands lindern: «Das ist etwas, wofür meine Regierung jahrelang gekämpft hat», sagte Sebastian Kurz. Auch EU-Ratspräsident und Gipfelgastgeber Donald Tusk verteidigte die Sammellager. Die Alternative seien chaotische Grenzschliessungen auch innerhalb der EU und wachsende Konflikte zwischen den EU-Ländern. Manche hielten seine Migrationsvorschläge für zu hart, sagte der Pole: «Aber vertraut mir: Falls wir uns darauf nicht einigen, werdet ihr einige wirkliche harte Vorschläge von wirklich harten Jungs sehen.» Gut möglich, dass Tusk dabei an Ungarns Orban dachte. Der meinte gestern, dass die Europäer nur zwei Wünsche hätten. Dass nämlich keine Migranten mehr an Land gelassen würden, und dass jene, die schon da seien, wieder zurückgeschickt würden.
Österreichs Regierungschef gegen Alleingänge
Merkels Anliegen, nämlich die sogenannte Sekundärmigration von bereits registrierten Asylbewerbern zwischen den EU-Staaten, war nur am Rande ein Thema. Mitgliedsstaaten sollten alle nötigen internen gesetzgeberischen und administrativen Massnahmen ergreifen, um Wanderungsbewegungen entgegenzuwirken, und dabei eng zusammenarbeiten, heisst es im Entwurf der Gipfelerklärung. Wie das genau geschehen soll, wird aber offengelassen. Die Bundeskanzlerin bekam immerhin unverhofft Unterstützung von ihrem Herausforderer Kurz.
Österreichs Regierungschef sprach sich am Abend gegen Alleingänge aus und warnte vor einer Kettenreaktion, sollte Merkels Innenminister Seehofer Asylbewerber an der deutsch-österreichischen Grenze zurückschicken. Die Regierung in Wien werde dann ebenfalls «Massnahmen setzen» müssen, um Schaden vom Land abzuwenden.?
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch