Irgendwo zwischen Revolution und Stillstand
Im wohl turbulentesten Wahlkampf, den Frankreich je erlebt hat, bleibt kein Stein auf dem anderen, und der Ausgang ist offener denn je. Der Grund ist paradox: Die Franzosen schwanken zwischen Revolution und Stillstand.
Zum Schluss auch noch der Terror. Der Anschlag auf die Champs-Elysées ist nur die letzte dramatische Wende im französischen Präsidentschaftswahlkampf. Im terrorerfahrenen Frankreich wird sie die Dinge nicht mehr völlig auf den Kopf stellen. Die Kampagne stand schon vorher kopf. Ihr Schlüsselwort heisst nicht «terrorisme», sondern «dégagisme», nach dem Verb «dégager» (entfernen, freilegen).
Der «Hau-ab-ismus» trifft Politiker zur Rechten wie zur Linken, amtierende Staatschefs wie Möchtegernkandidaten. Bei den Republikanern wurden Kronfavorit Alain Juppé und Ex-Präsident Nicolas Sarkozy in den Primärwahlen fast über Nacht weggefegt, nachdem sie über ein Jahr lang ihr Comeback vorbereitet hatten. Bei den Sozialisten traf es Präsident François Hollande und Premier Manuel Valls.
«Dégagez!», schallt der Ruf durchs Land, voller Zorn über die unfähigen Politiker, die nichts ausrichten gegen die rekordhohe Arbeitslosigkeit oder die explosive Banlieue-Misere. «Unser Land ist krank, gegen die nötigen Reformen, wütend über seine politischen Eliten, aber anfällig für demagogische Wahlversprechen, die zu einer schrecklichen Vertrauenskrise führen», resümierte Juppé mit Grabesstimme die Lage der Nation, bevor er die Pariser Bühne verliess.
Es ist unbestreitbar: Die Franzosen wollen Tabula rasa machen, sie wollen die Republik aufräumen und ausmisten. Die Fünfte Republik erzittert in ihren Grundfesten. Die beiden Parteiblöcke, die sich seit 1958 an der Macht abgelöst hatten, sind am Implodieren: Die seit der Mitterrand-Ära so prägenden Sozialisten laufen mit ihrem Kandidaten Benoît Hamon (8 Prozent in den Umfragen) nur unter «ferner liefen» und antizipieren die Spaltung. Das gleiche Los wartet auf die Republikaner, falls es François Fillon nicht in die Stichwahl schaffen sollte.
Fillon war im Kielwasser der Dégagez-Welle an die Parteispitze gespült worden, ist aber längst selber in den Strudel geraten. Den Wählern ist aufgegangen, dass er als Ex-Premier Sarkozys nicht gerade einen Neuanfang verkörpert. Eigentlich genauso wenig wie Marine Le Pen, die auch nur ihren Vater Jean-Marie beerbt hat. Jean-Luc Mélenchon war schon unter Mitterrand Senator der Sozialisten gewesen, und der Eliteschulabsolvent Emmanuel Macron steht insofern für Kontinuität, als er die Wirtschaftspolitik Hollandes in vieler Hinsicht weiterführen will.
Darin liegt das Paradoxe dieser Wahl: Die Erneuerung ist nur eine scheinbare. Denn den eigentlichen Hemmschuh Frankreichs greift auch Jungstar Emmanuel Macron nicht an: Der lähmende Zentralismus des überbordenden Staatsapparates (56 Prozent des Bruttoinlandproduktes), von einer Pariser Technokratenelite dirigiert, der eben auch Macron entstammt, widersteht allen Wahlversprechen.
Frankreich bleibe wirtschaftspolitisch «festgefroren», meint der Ökonom Nicolas Baverez, laut dem die Nation «in der Falle des doppelten Defizits» stecke: Gegen innen setzen alle Kandidaten das seit vierzig Jahren bestehende Haushaltsdefizit fort, was die Staatsschuld auf fast 100 Prozent des Bruttoinlandproduktes anschwellen liess. Gegen aussen fährt die französische Wirtschaft seit über einem Jahrzehnt ein gewaltiges Handelsdefizit (45 Milliarden Euro 2016) ein, weil die Unternehmen vor allem wegen der exorbitanten Steuer- und Abgabelast (27 Prozent, OECD-Rekord) nicht mehr konkurrenzfähig sind.
«Wir unterhalten den revolutionären Mythos, dass wir zum Umsturz bereit seien», sagt Thierry Pech vom linken Thinktank Terra Nova. «Aber die Realität ist eine andere.» Frankreichs Realität besteht auch darin, dass das Land das sogenannte Banlieue-Problem nicht zu lösen vermag. Diese Einwandererzonen sind in Wahrheit wirtschaftliche Ghettos, aus denen die junge Bevölkerung den Sprung kaum je schafft.
Die Jugendarbeitslosigkeit (15- bis 24-Jährige nach Schulabschluss) erreicht dort ortsweise 30 bis 40 Prozent. Landesweit liegt sie bei 24 Prozent, weit über dem EU-Schnitt. «Frankreich hat seine Jugend geopfert», urteilt François Lenglet, Journalist des öffentlichrechtlichen Fernsehsenders France 2, in einem viel beachteten Buch über den Preis, den die junge Generation heute dafür zahle, dass die Babyboomer- Generation über ihren Verhältnissen gelebt habe.
Sie habe das Savoir-vivre perfektioniert, indem sie ein hohes Lohnniveau, die 35-Stunden-Woche und einen rigorosen Kündigungsschutz durchgesetzt habe. Die jüngere Generation werde meist nur noch mit halbjährigen Kurzzeitverträgen angestellt. Wenn überhaupt. Statt in Lebenskunst übe sie sich darin, wirtschaftlich zu überleben, schreibt Lenglet.
Da muss man nicht lange fragen, für wen die jungen Franzosen morgen stimmen werden: Ihre Gunst haben Rechts- und Linkspopulisten wie Le Pen und Mélenchon. Der Front National ist bei den unter 25-Jährigen heute mit 35 Prozent Stimmenanteil die stärkste Partei (bei der Gesamtheit der Wähler sind es weniger als 30 Prozent). Unangenehm ist das auch für Präsident Hollande, der bei seinem Amtsantritt 2012 erklärt hatte, sein Hauptziel sei es, dass es der französischen Jugend fünf Jahre später besser gehen werde.
Heute geht es ihr noch schlechter. Hollande verkörperte bis zur Karikatur das französische Lavieren zwischen Stillstand und Handeln, Blockade und Reform. Sein Vorgänger Sarkozy (2007–2012) hatte zuvor nicht minder gezaudert. «Ein verlorenes Jahrzehnt für Frankreich», urteilt der Editorialist Jean-Pierre Robin.
Das allgemeine Zaudern im Elysée entspricht dem Zorn der Wähler, die ihre alten Politiker abservieren, aber das alte System mit Privilegien, Steuernischen und Sonderrechten bewahren wollen. Es ist auch der Zorn über den unausweichlichen Abschied vom französischen Sozialmodell, ja von einem gewissen Savoir-vivre.
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