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Der gescheiterte Aufstand

Am 17. Juni 1953 geriet das kommunistische Regime der DDR ins Wanken – wegen streikender Arbeiter.

2018-06-15 14:55
Thomas Buomberger
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Von Thomas Buomberger (publiziert am Sat, 16 Jun 2018 03:00:07 +0000)

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Der 17. Juni 1953: Sowjetische Panzer fahren auf dem Potsdamer Platz in Berlin auf. Foto: Ullstein Bild, Getty Images

Am 17. Juni 1953 geriet das kommunistische Regime der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) ins Wanken. Spontan und kraftvoll erhob sich eine Million Menschen in 700 Städten. Doch die in der DDR stationierte Sowjetarmee von 500’000 Mann schlug den Aufstand meist noch am gleichen Tag nieder.

Während sich in der Bundesrepublik Deutschland mit der Währungsreform 1948 die Läden schlagartig mit Waren füllten, es wirtschaftlich rasant bergauf ging, nahm die DDR eine gegenteilige Entwicklung. Der von SED-Parteichef Walter Ulbricht verordnete strikt stalinistische Kurs bedeutete im Alltag: leere Läden und entwertetes Geld. Fett, Fleisch und Zucker waren noch immer rationiert. Während 1952 das Durchschnittseinkommen in der DDR etwa 300 Mark betrug, kostete ein Kilo Zucker 12 Mark.

Wirtschaft und Staat wurden strikt zentralistisch organisiert. Die Kollektivierung der Landwirtschaft wurde mit Zwang vorangetrieben, was zur Folge hatte, dass Tausende von Bauern in den Westen flüchteten. Das Resultat: weniger Konsumgüter, dafür mehr Repression und Überwachung. In den beiden Jahren 1952 und 1953 verliess über eine halbe Million Menschen die DDR. Der Chefredaktor des «Neuen Deutschland» schrieb im Juni 1953, dass «jeder Flüchtling ein Propagandist gegen die SED» sei.

«Zeit, den Holzhammer beiseite zu legen»

Walter Ulbricht gestand im November 1952 ein, dass sich die Wirtschaft der DDR in einer Krise befinde. Die Spannungen zwischen der Arbeiterschaft und der Staatsmacht nahmen zu. Ende 1952 kam es zu einer regelrechten Streikwelle. Den Spielraum der Betriebsleitungen bei den Löhnen und Arbeitszeiten schränkte die Partei ein. Sie verfügte per Dekret, dass ab dem 1. Juni 1953 die Arbeitsnormen landesweit um durchschnittlich mindestens zehn Prozent erhöht würden.

Die enorme Fluchtbewegung aufgrund des repressiven Kurses der DDR-Führung passte der Sowjetunion gar nicht, weshalb sie Lockerungen veranlasste. Ziel war es, den Lebensstandard auf Westniveau anzuheben. Die Bevölkerung spürte mehr Beinfreiheit. Hoffnung erweckte eine Titelüberschrift im SED-Parteiorgan: «Es wird Zeit, den Holzhammer beiseite zu legen.» Viele erwarteten nun, dass es zu einer Demokratisierung kommen würde, zu Rechtssicherheit und der Überprüfung von früheren stalinistischen Terrorurteilen. Auch kam die Forderung nach dem Rücktritt von Walter Ulbricht auf.

Wie ein Flächenbrand

Gerade in dem Augenblick, in dem das Regime bereit war – und der Not gehorchend –, die Zügel zu lockern, brach der Aufstand aus, der sich wie ein Flächenbrand übers ganze Land ausbreitete. In 700 Städten und Gemeinden kam es zwischen dem 16. und 21. Juni zu Streiks und Demonstrationen. Der Auslöser waren Vorgänge in Berlin.

An der Stalinallee (heute Karl-Marx-Allee) war eine Musterwohnanlage für Arbeiter im Bau. Obwohl die beteiligten Bauarbeiter mit überdurchschnittlich hohen Löhnen zu den Privilegierten gehörten, waren sie nicht bereit, die Lohneinbusse von zehn Prozent aufgrund der «freiwilligen» Normerhöhungen zu akzeptieren. Der Protest begann harmlos. Am 13. Juni fand ein Betriebsausflug von 500 Bauarbeitern mit ihren Familien ins auch heute noch beliebte Ausflugslokal «Rübezahl» statt. Am Schluss der Feier stieg ein Maurer auf den Tisch und rief in die Menge, dass am kommenden Montag gestreikt werde. So schilderte später die SED den Auftakt des Aufstandes.

An einem Tag 2500 Personen verhaftet

In den folgenden Tagen kam es auf mehreren Baustellen zu Streiks. Gefordert wurden die Rücknahme der Normen, die Senkung der Lebenskosten sowie freie und geheime Wahlen. Die Parteiführung stellte sich taub. Am 17. Juni begann sich die Streikbewegung ab sechs Uhr morgens auf ganz Ost-Berlin auszudehnen. Der öffentliche Verkehr wurde lahmgelegt. Schon am Vormittag demonstrierten Zehntausende. Polizeistellen wurden gestürmt, Ministerien belagert. Es kam zu Scharmützeln mit Verletzten.

Doch fast gleichzeitig fuhr auch schon die sowjetische Armee auf, die 20’000 Mann mit 600 Panzern zum Einsatz brachte. Die sowjetischen Soldaten schossen gegen die Demonstranten aus automatischen Waffen, allerdings meist über die Köpfe hinweg. Den sowjetischen Truppen gelang es bereits gegen Abend, die Lage unter Kontrolle zu bringen. Allein an diesem Tag wurden in Berlin 2500 Personen verhaftet.

Wie in Berlin kam es vor allem in den Industriestädten zu Streiks und Demonstrationen. Betriebsleiter wurden kurzfristig abgesetzt, SED-Funktionäre verprügelt. In Leipzig geriet der anfängliche Arbeiteraufstand zu einem Volksaufstand mit 100’000 Beteiligten. Doch nicht nur in den Grossstädten, auch in kleineren wie den Werftstädten Rostock oder Warnemünde kam es zu Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen. Doch überall gelang es den sowjetischen Truppen, die Revolten zu ersticken, meist am gleichen Tag. Spätestens am 21. Juni war überall der Widerstand gebrochen.

Ein relativ «bescheidener» Blutzoll

Im Vergleich zu späteren von der Sowjetunion unterdrückten Aufständen war der Blutzoll relativ «bescheiden». Nachgewiesen wurden bis heute fünf standrechtliche Erschiessungen. Fünf Angehörige der DDR-Sicherheitsorgane wurden getötet. Angesichts des Einsatzes von Hunderten von Panzern und von Schnellfeuerwaffen mag es erstaunen, dass es «nur» 55 Tote während des Aufstandes gab.

Doch offenkundig hatten die russischen Truppen die Anweisung, ein Blutbad zu vermeiden. So fuhren die Panzer im Schritttempo, und meist schossen die Soldaten über die Köpfe der Demonstranten hinweg. Die Führung der Sowjetunion wollte offensichtlich die Legitimationskrise des DDR-Staates und der SED nicht noch mehr verschärfen, deshalb die geringe Gewaltausübung.

Ilko-Sascha

Ilko-Sascha Kowalczuk: 17. Juni 1953. Geschichte eines Aufstandes. C. H. Beck, Berlin 2013. 128 S., ca. XX Fr.

In den folgenden drei Wochen verhafteten Stasi und Polizei etwa 10’000 Personen, später nochmals 5000. Stasi-Chef Erich Mielke, der bis 1989 im Amt war, forderte «energisches Handeln» gegen «Hetzer, Provokateure, Saboteure, Rädelsführer.» Doch die Staatsmacht gab sich relativ gemässigt. Insgesamt wurden 1526 Angeklagte verurteilt. Sieben wurden hingerichtet, drei erhielten lebenslängliche Strafen. Ein Drittel der Angeklagten erhielt Strafen von bis zu einem Jahr.

Die relative Milde der Strafen mag erstaunen, trieb der Aufstand doch die DDR an den Rand des Kollapses, der ohne das Eingreifen der Sowjetarmee zweifellos eingetreten wäre. Dass ausgerechnet die Arbeiterschaft der Führung des Arbeiter- und Bauernstaates das Vertrauen entzogen hatte, blieb für die DDR-Oberen während Jahren eine traumatische Erfahrung.

Der Beitrag Der gescheiterte Aufstand erschien zuerst auf History Reloaded.

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2018-06-15 14:55
Thomas Buomberger