Gewalt in russischen Straflagern«Die Welt sieht nun diese massenhaften Verbrechen»
Ein ehemaliger Häftling hat Foltervideos aus einem russischen Gefängnis geschmuggelt. Möglich war das dem heute 31-Jährigen, der in Frankreich Asyl bekommen hat, weil er sich in der Haft als IT-Techniker Zugang zum Server verschaffen konnte. Nun bangt er um sein Leben.

Seit seiner Entlassung aus dem Gefängnis in der russischen Wolga-Metropole Saratow fürchtet Sergej Saweljew um sein Leben. Der junge Mann hat Unmengen an Videomaterial aus dem Knast geschmuggelt, um die Abgründe des Strafvollzugs öffentlich zu machen. «Es sind Videos voller schrecklicher, sadistischer Szenen», sagt der 31-Jährige, der in Frankreich Asyl erhalten hat. Zu sehen sind nackte gefesselte Gefangene, die auf jede erdenkliche Weise gequält werden.
Dass in Russland Gefangene gefoltert werden, ist nichts Neues. Aber das Ausmass, das nun bekannt wird, übertrifft alles Vorstellbare, wie Wladimir Ossetschkin vom Menschenrechtsprojekt Gulagu.net sagt. Er veröffentlicht in sozialen Netzwerken immer wieder gepixelte und viel beachtete Aufnahmen von der rohen Gewalt in Straflagern.
Vor allem die Anfang Oktober veröffentlichten Videos aus dem Gefangenen-Spital Nummer eins in Saratow lösten breites Entsetzen aus. Saweljew arbeitete dort in der Video-Überwachung – und hatte so Zugang zu den Dateien. Nach seiner Freilassung übergab er sie an Ossetschkin, der Russland schon 2015 verlassen hatte.

Seine Organisation hat Ossetschkin nach dem unter Sowjetdiktator Josef Stalin gegründeten Lagersystem benannt, das auch der Schriftsteller Alexander Solschenizyn (1918-2008) einst in seinem Werk «Archipel Gulag» beschrieb. Der Name Gulag ist weg, aber sogar russische Regierungspolitiker beklagen bisweilen, dass das System im Grunde weiterlebe.
Saweljew und Ossetschkin haben in Biarritz, dem Seebad im Südwesten Frankreichs, politisches Asyl gefunden. Sie reden fast täglich mit internationalen Medien, arbeiten mit Dokumentarfilmern. Ihr Ziel ist es, die bisher wohl grösste Enthüllung von Gewalt in russischen Gefängnissen öffentlich zu machen.
«Bombe von 100 Gigabyte»
Russlands Starmoderatorin Xenia Sobtschak traf Saweljew gerade in Frankreich zum Interview für ihren Videokanal. Sie nennt ihn einen «Helden neuen Typs» und stellt ihn in eine Reihe mit Whistleblowern, die staatliche Missstände öffentlich machen.
Eine «Bombe von 100 Gigabyte» hat sie ihren Film mit Blick auf die Datenmenge genannt. Zu Wort kommen auch misshandelte Gefangene, die von einem System der Angst und des Wegsehens berichten. Mehr als zwei Millionen Menschen haben den Film bisher bei Youtube aufgerufen.
Medien-Aufsichtsbehörde versucht, Videos sperren zu lassen
In anderen Ländern würden bei solchen Skandalen Regierungen stürzen, sagt Sobtschak. Nicht aber in Russland. Zwar sind die von Saweljew beschuldigten Beamten aus dem Strafvollzug entlassen. Festnahmen gab es bisher aber keine. Stattdessen hat die Justiz gegen Saweljew Haftbefehl erlassen und ihn zur Fahndung ausgeschrieben. Russlands Medien-Aufsichtsbehörde Roskomnadsor versucht zudem, die Videos online etwa bei Youtube sperren zu lassen.

Der aus Belarus stammende Saweljew, das erkennen viele an, hat sein Leben riskiert, um das Material zu veröffentlichen. Und doch sind Stimmen wie die der Menschenrechtsbeauftragten der russischen Regierung, Tatjana Moskalkowa, die seinen Mut lobte, eher selten. Saweljew und Ossetschkin sagen, sie bekämen Morddrohungen. Der Kontakt mit ihnen gelingt über Facebook. Der 40-jährige Ossetschkin gibt sich kämpferisch: «Wir machen weiter.»
Beide wissen, dass Russlands Geheimdienste einen langen Arm haben. Die Liste ermordeter russischer Regierungskritiker ist lang. Ossetschkin wirft dem Strafvollzug und dem Inlandsgeheimdienst FSB vor, ein System der Unterdrückung und Erniedrigung geschaffen zu haben. «Obwohl alle sehen können, was in den Straflagern vor sich geht, gibt es keine objektiven Ermittlungen», sagt er. «Klar ist vielmehr, dass man uns vernichten will.»
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