50 Jahre seit Ende der Tuskegee-Syphilis-StudieEin grausamer Menschenversuch hat Folgen bis heute
Es gilt als der grösste Medizinskandal in der US-Geschichte: Beim Tuskegee-Experiment wurden 399 Menschen mit potenziell tödlicher Syphilis nicht behandelt.

Unter Schwarzen in den USA ist die Corona-Impfquote vielerorts geringer als in anderen Bevölkerungsgruppen. Neben einem generellen Misstrauen Regierung und Gesundheitssystem gegenüber soll US-Medienberichten zufolge ein Grund dafür in einem vor 50 Jahren aufgedeckten grausamen Experiment liegen: der sogenannten Tuskegee-Studie. Menschen wurden dabei von Regierungsärzten einem oft furchtbaren Weg in den Tod überlassen. «Die entscheidende Lehre aus der Tuskegee-Studie ist, dass das Gewissen des Forschers viel wichtiger ist als alle Vorschriften der Welt», betont der Intensiv- und Lungenmediziner Martin Tobin im «American Journal of Respiratory and Critical Care Medicine».
Die Tuskegee-Studie des Public Health Service, einer dem US-Gesundheitsministerium unterstehenden Behörde und Vorläufer der heutigen CDC (Centers for Desease Control and Prevention), hatte im Jahr 1932 begonnen. 399 afroamerikanischen, mit Syphilis infizierten Männern aus der Gegend um die Kleinstadt Tuskegee in Alabama wurde absichtlich und ohne ihr Wissen eine wirksame Therapie vorenthalten. 201 nicht infizierte Männer bildeten die Kontrollgruppe. Ziel war es, das Fortschreiten der Krankheit und ihre Spätfolgen zu beobachten. Bei Verstorbenen wurde eine Autopsie gemacht. Wissenschaftlicher Wert der Studie: null. Die grausigen Folgen der Syphilis waren schon seit Jahrhunderten bekannt.
Absichtlich mit Syphilis infiziert
Dutzende der Männer litten und starben an der Krankheit, obwohl sie leicht hätten geheilt werden können. Die Studie wurde erst 1972 beendet, nachdem der junge Sozialarbeiter Peter Buxton Medien über das menschenverachtende Experiment informierte und diese breit berichteten. Zuvor hatte der Mitarbeiter jahrelang vergeblich versucht, bei den Behörden die Einstellung der Studie zu erreichen. Die amerikanische Öffentlichkeit war entsetzt, der Kongress führte Vorschriften zur Durchführung medizinischer Forschung ein. Strafen für die Verantwortlichen gab es nicht.
Erst im Jahr 2010 sei dann bekannt geworden, dass dieselbe Gruppe von Forschern in den 1940er-Jahren Hunderte Guatemalteken absichtlich mit Syphilis und Gonorrhoe (Tripper) infiziert hatte, um bessere Mittel zur Verhinderung dieser Infektionen zu entwickeln, ergänzt Tobin, Professor an der Loyola University of Chicago in Maywood, in seinem Beitrag. Auch sie erlitten schlimme Qualen, viele starben.
«Es geht also nicht nur um amerikanische Ärzte, sondern um die gesamte Ärzteschaft auf der ganzen Welt.»
Als die Menschenversuche in der Region Tuskegee begannen, sei Syphilis noch eine der am meisten gefürchteten Krankheiten der Welt gewesen, so Tobin. Schätzungen zufolge sei im frühen 20. Jahrhundert einer von zehn Amerikanern erkrankt. Es handelt sich um eine chronisch verlaufende, sexuell übertragbare Erkrankung, verursacht vom Bakterium Treponema pallidum. Unbehandelt können Haut und Organe massiv befallen werden, es bilden sich Ausschläge, Knoten und Geschwüre. Im Endstadium kommt es zur Zerstörung des zentralen Nervensystems – mit furchtbaren Auswirkungen für die Betroffenen wie Lähmungen, Schmerzanfällen, Erblindung und fortschreitendem Verlust des Verstandes, die auch eine immense Last für betreuende Angehörige bedeuteten.
Seit den 1920er-Jahren gab es Tobin zufolge Behandlungsmöglichkeiten, die den Männern aus der Tuskegee-Studie – zumeist arme, in sklavereiähnlichen Zuständen lebende Landarbeiter – aber jahrzehntelang vorenthalten wurden. Frauen wurden angesteckt, die wiederum tote oder infizierte Babys zur Welt brachten. Den beteiligten Forschenden war das unsägliche Leid bewusst, sie nahmen es in Kauf.

Als Arzt, der selbst seit mehr als 45 Jahren Forschung an Patienten betreibe, frage er sich, wie sich Ärzte und Wissenschaftler selbst davon überzeugen konnten, dass es moralisch akzeptabel ist, verstörende Experimente an unwissenden Menschen durchzuführen, so Tobin, der auch am Hines Veterans Affairs Hospital arbeitet.
Kein Protest in der Ärzteschaft
Die Studie sei zudem nicht etwa im Geheimen durchgeführt worden: Die US-Gesundheitsbehörde CDC habe über die schrecklichen Komplikationen einer unbehandelten Syphilis in 15 Artikeln berichtet, die in öffentlichkeitswirksamen medizinischen Fachzeitschriften präsentiert wurden. «Aber kein einziger Arzt irgendwo auf der Welt veröffentlichte einen Protest.»
«Es geht also nicht nur um amerikanische Ärzte. Es geht nicht nur um die CDC, sondern um die gesamte Ärzteschaft auf der ganzen Welt», betont Tobin. «Man muss immer auf der Hut sein.» Es sei naiv zu glauben, dass sich etwas Schreckliches nicht wiederholen könne. Unethische Studien werde es immer wieder geben –ebenso wie Beteiligte, die nicht nachdenken, sondern blindlings den Vorgaben folgen.
Vorsichtsmassnahmen und Regeln wie die nach den Berichten über das Tuskegee-Experiment in den USA entwickelten seien sehr wichtig. Das Wichtigste aber sei, dass ein Forscher oder Arzt selbst über ethische Fragen nachdenke und diese auch anspreche, betont Tobin. «Schweigen kann tödlich sein.»
Für viel Aufsehen hatten im vergangenen Jahr sogenannte Human-Challenge-Studien in Grossbritannien gesorgt. Junge Freiwillige wurden ohne vorherige schützende Impfung gezielt mit Corona infiziert. «Das Human-Challenge-Programm wird die Entwicklung von Impfstoffen und Behandlungen gegen Covid-19 verbessern und beschleunigen», hiess es von der britischen Regierung.

Kritiker wiesen darauf hin, dass sich Langzeitschäden bei Covid-19 auch bei jungen, gesunden Menschen nicht ausschliessen liessen. Menschen würden vorsätzlich in Gefahr gebracht, obwohl es Alternativen gebe. Zu jener Zeit infizierten sich allein in Grossbritannien täglich Tausende Menschen mit Corona; die Analyse ihrer Daten brachte etliche neue Erkenntnisse, ganz ohne die absichtliche Ansteckung von Menschen.
Ethische Fragestellungen bleiben aktuell
Erst im Februar waren dann erste Zwischenergebnisse der Human-Challenge-Analysen präsentiert worden –die allerdings bereits veraltet waren, weil inzwischen ganz andere Varianten des Virus kursieren. Ursprünglich hatten die Wissenschaftler gehofft, mit ihrer Forschung die Entwicklung von Impfstoffen beschleunigen zu können. Doch diese kamen auch mit klassischen klinischen Tests in Rekordgeschwindigkeit zum Einsatz.
Das Beispiel zeigt: Ethische Fragestellungen bleiben aktuell. Einfach blindlings allen anderen zu folgen, sei für Ärzte und Wissenschaftler keine Option, betont Tobin. «Wenn jemand in der Forschung tätig ist und glaubt, dass die Forschung, an der er beteiligt ist, unethisch ist, hat er natürlich die moralische Verpflichtung, dem nachzugehen, weil sonst Patienten zu Schaden kommen.»
Der Lungenspezialist Martin Tobin war im April 2021 Sachverständiger für die Staatsanwaltschaft im Strafprozess gegen einen Polizeibeamten, der im Mai 2020 in Minneapolis George Floyd getötet hatte. Struktureller Rassismus sei nach wie vor ein Problem in den USA, auch im Gesundheitswesen, ist er überzeugt.
Fehler gefunden?Jetzt melden.