Hürdenläufer Alison Dos SantosJeder starrt auf seinen Kopf
Der junge Brasilianer (22) ist der Leichtathlet des Sommers. Seine Neugier als Kleinkind hat für ihn bleibende Folgen, seine Narben sind unübersehbar.

Wie feiert ein Brasilianer seinen WM-Titel? Nah am Klischee, zumindest wenn er Alison Dos Santos heisst. Im Juli konnte er sich als erster Leichtathlet seines Landes zum Weltmeister krönen – über 400 m Hürden. Danach gab es Pizza und Caipirinha. Der Titel hat ihn im sechstbevölkerungsreichsten Land der Welt mit seinen 214 Millionen Einwohnern ziemlich bekannt gemacht und liess ihn verschmitzt bemerken, dass er nun endgültig der Beweis sei, dass Brasilien sportlich sehr viel mehr könne als nur Fussball.
Trotzdem bleibt Dos Santos in der Leichtathletik ein Exot. Denn brasilianische Topathleten und -athletinnen existieren so gut wie keine. Nur schon darum fällt der 22-Jährige auf. Eine der ersten Fragen, die er seit seinem rasanten Aufstieg allerdings stets beantworten muss, betrifft sein Aussehen. Dos Santos’ Kopf ist von Narben überzogen, im vorderen Bereich haarlos.

Als er zehn Monate alt war, erwischte er eine mit Öl gefüllte Bratpfanne der Grossmutter. Der heisse Inhalt ergoss sich über den kleinen Dos Santos und führte zu Verbrennungen dritten Grades an Kopf und Körper. Mehrere Monate musste er ins Spital. Seither trägt er die Verbrennungen wie ein Mahnmal mit sich herum.
Es machte aus dem dünnen, grossen Buben, der schliesslich exakt zwei Meter gross werden sollte, einen Aussenseiter. Jeder starrte auf seinen Kopf. Dos Santos kaschiert ihn auch darum ausserhalb der Wettkampfstätten immer mit einer Mütze.

Zudem dient sie ihm als Schutz vor der Sonneneinstrahlung. Denn die Narben mögen mittlerweile verheilt sein, die Empfindlichkeit ist teilweise geblieben und zwingt ihn dazu, sein Haupt so gut wie immer zu bedecken. Auch durch die Leichtathletik aber hat der Mann mit Schalk an Selbstvertrauen gewonnen und gelernt, sich zu öffnen.
Dass er solides Englisch spricht, auch weil er immer wieder in den USA lebt beziehungsweise trainiert, hilft dem Aufsteiger dieses Sommers. Wer auf globaler Bühne seines Sports zur Grösse werden will, kommt um Englisch nicht herum. Und vieles deutet darauf hin, dass Dos Santos noch länger für positive Schlagzeilen sorgen wird.
Vom Judoka zum Hürdensprinter
Schliesslich kam er erst mit 16 Jahren zur Leichtathletik. Davor übte er sich als Judoka, verliess den Sport aber, weil seine Familie das Trainingsgeld nicht mehr aufbringen konnte. Da schien ein «billiger» Sport wie die Leichtathletik für einen wie ihn gerade richtig.
Dos Santos stürmte in Siebenmeilenstiefeln voran. Im Jahr der Heimspiele von 2016 in Rio bestritt er sein erstes Hürdenrennen, zwei Jahre später holte er sich bereits WM-Bronze bei den Junioren – und im letzten Jahr an den Spielen die erste Medaille bei den Aktiven.
Der Norweger Karsten Warholm lief damals als Erster in seiner Disziplin unter 46 Sekunden (45,94), der Amerikaner Rai Benjamin blieb knapp darüber (46,17) – und auch Dos Santos unterbot in 46,72 den alten Weltrekord von Kevin Young, der 29 Jahre gehalten hatte.

Mittlerweile stellt sich heraus: Was in Tokio als Jahrhundertrennen bezeichnet wurde, könnte bloss der Vorbote noch schnellerer Zeiten sein. Denn an der WM kam Dos Santos in 46,29 seinen beiden Rivalen schon sehr nahe. Angesichts seines Alters und seiner noch kurzen Karriere in dieser technischen, trainingsintensiven Disziplin spricht wenig dagegen, dass Dos Santos bald ebenfalls unter diese lange für unmöglich gehaltenen 46 Sekunden gelangen könnte. Die nächste Chance dazu hat er am Freitag am Diamond-League-Meeting in Brüssel.
Zum Vorteil gereicht ihm dabei seine Grösse. Selbst im Feld der ohnehin schon grossen Hürdenläufer fällt er auf – und benötigt mit seinen ewig langen Beinen von 1,11 m so wenige Schritte wie kaum ein anderer zwischen den Hürden (12 Schritte zwischen Hürden 2 bis 6). Kann er diesen Beinvorteil weiter ausbauen, wird Alison Dos Santos noch zu sehr viel mehr als nur zum Aufsteiger dieses Jahres.
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