Mit 90 immer noch im SchützenhausEr «chlöpft» seit einem halben Jahrhundert
Wenn es einen Chlapf und viel Rauch gibt, fühlt sich Ruedi Wüthrich wohl. Der 90-Jährige aus Hünibach hofft, Junge für alte Waffen begeistern zu können.

Betritt man Ruedi Wüthrichs Wohnung, sieht man als Erstes ein Gewehr. Es hängt an der Wand gegenüber der Tür, ein Nachbau eines Gewehrs für die Büffeljagd von etwa 1790 – mit einem Stab, mit dem man das Schwarzpulver in den Lauf stopft, und einem Feuerstein, der es entzündet. Ruedi Wüthrich bietet sauren Most an und führt ins Wohnzimmer seiner Wohnung in Hünibach. Auch hier gibt es viele Hinweise auf sein Hobby, das er liebevoll als «chli chlöpfe» bezeichnet. Eine historische Pistole. Kelche vom Bernerschiessen 1980. Eine Trillerpfeife, die, so erklärt Wüthrich, sein Schwager als amerikanischer Kommandant gegen die Japaner dabeihatte. Und ein Hut des Berner Oberländer Schützenbataillon 36, zu dem Wüthrich sagt: «Den nehme ich mit ins Altersheim, wenn es mich nicht vorher aus den Socken lüpft.»
Gerade ist er 90 Jahre alt geworden und hat seinen Geburtstag mit der Familie und den Kollegen des Vereins der Vorderladerschützen Steffisburg gefeiert. Er ist seit Anfang dabei, hat den Verein 1975 mitgegründet. An unzähligen Schützenfesten hat er in den letzten 50 Jahren teilgenommen, wurde zweimal Schweizer Meister, war an Wettbewerben in Südafrika, Kanada, Holland und in anderen Ländern dabei. Über die Titel verliert er kaum Worte, dafür umso mehr über die vielen Leute – «die immer anderen Grinde» –, die er in all den Jahren kennen lernen durfte. «Heute überlege ich mir manchmal: ob es die wohl noch gibt?»

Schwarzpulver aus dem Dorfladen
Blickt Ruedi Wüthrich auf sein Leben zurück, wird schnell klar, dass er nie Mühe hatte, Menschen kennen zu lernen. Nach einer Lehre als Tischler und Möbelschreiner zog er nach Schweden – auch weil er fand, dieses «verklemmte Zeug in der Schweiz» sei nicht seins. Er arbeitete in einer Möbelfabrik und lernte Schwedisch, ging dann nach Finnland und schliesslich in die USA. «Weg vom Mami», das habe ihm gutgetan, «das würde auch heute vielen Jungen guttun», sagt er. In dieser Zeit habe er gelernt, selbstständig zu sein und sein Geld einzuteilen. Fähigkeiten, von denen er profitiert habe, als er zurück in Hünibach die Schreinerei seines Vaters übernommen habe.
«Früher konnte man beim Grunder für 15 Franken ein Kilo Schwarzpulver holen.»
Zum ersten Mal geschossen habe er im Militär. Mit einem Karabiner. «Das hat mir nicht viel gesagt.» Auch moderne Sturmgewehre findet er völlig uninteressant. Nur die alten Vorderlader, bei denen es «einen Chlapf und viel Rauch» gibt – die haben es ihm angetan. Kennen gelernt habe er sie dank eines Mannes aus Ungarn, der damals in die Schweiz geflüchtet war und in Wüthrichs Elternhaus wohnte. «Er hat mir die Vorderlader gezeigt und ich sagte: Das will ich auch.» Noch heute schreibe er dem Mann, der mittlerweile auf einer Büffelfarm in Kanada lebe, manchmal Briefe.

Auf dem Wohnzimmertisch neben einem Ordner mit alten Vereinsprotokollen hat Ruedi Wüthrich drei Gewehre bereitgelegt. Eine napoleonische Waffe, das Gewehr für die Büffeljagd und ein weiteres Jagdgewehr. «Einfach Pulver reinlassen und los», so einfach sei es nicht, sagt Wüthrich. Und nimmt sich Zeit, dem Laien zu erklären, wie die Gewehre funktionieren. Wie die Lunte auf das Zündkraut trifft oder der Feuerstein Funken sprüht. Wie Schwarzpulver zusammengesetzt ist – «früher konnte man beim Grunder für 15 Franken ein Kilo holen». Und dass er damals auch selber Kugeln gegossen habe, dass diese aber nie optimal rund geworden seien.
Das Dorfleben fehlt
Ob er eigentlich auch auf die Jagd gegangen sei? «Nein, nein», sagt Wüthrich schnell und lacht. «Auf Tiere könnte ich nicht schiessen.» Er habe sogar Mühe, auf Zielscheiben zu schiessen, die wie Tiere aussähen. Auch Krieg und Schlachten interessieren ihn kaum. Es geht um die Gewehre. Und um die Geselligkeit. Nur darum.

«Wenn man heute ‘chli chlöpft’, denken alle sofort an Mord und Totschlag.»
Plötzlich wirkt der 90-Jährige traurig. Der Schiesssport hat aktuell eher einen schlechten Ruf und ein Jugendproblem. «Wenn man heute ‹chli chlöpft›, denken alle sofort an Mord und Totschlag.» Früher habe es fürs Schiessen kaum Auflagen gegeben, man habe einfach Festchen veranstaltet und das Zusammensein genossen. Doch gerade in Hünibach seien die Leute zunehmend wütend geworden, wenn man im Schiessstand am Dorfrand ein bisschen geschossen habe. Lärmklagen und Beschwerden habe es gegeben. Nun gelten überall strikte Auflagen. Und in Hünibach werde gar nicht mehr geschossen. «Für mich ist dadurch die Dorfgemeinschaft zusammengebrochen», sagt Wüthrich. Früher habe man die Giele im Dorf noch gekannt. «Heute schlarpe ich da noch allein herum.»
Und doch will Ruedi Wüthrich diese traurige Aussage so nicht stehen lassen. «Ich habe das Gefühl, das Vorderladerschiessen könnte wieder aufkommen.» Es werde wieder eine Welle Junger im Verein geben, glaubt er. «Alles, was es braucht, ist einer, der ein bisschen spinnt, und dann kommts gut.»
Jammern macht Spass
Mit einem Blick auf die drei Gewehre auf dem Tisch sagt er: Zwei werde er dem Verein schenken; eines nehme er mit, wenn er dereinst zu seiner Frau ins nahe Alters- und Pflegeheim ziehe. Solange es noch möglich sei, wolle er weiter im Schützenhaus in Steffisburg stehen. «Ich würde ja auch noch 300 Meter schiessen, aber mit meinen operierten Knien kann ich mich nicht mehr hinlegen.» Doch wichtig sei das eigentlich gar nicht. Im Grunde gehe es ja doch nur um eines: mit den Kollegen jammern zu können, wenn die Kugel nicht dorthin fliege, wo man hingezielt habe.
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