Kommentar zur SelbstvermessungGehen ist das neue Stehen
Warum das Schrittezählen in der Pandemie zur Sucht werden kann. Ein Erfahrungsbericht.

Onlinesucht, die Sexsucht, die Alkoholsucht, die Nikotinsucht und die Tablettensucht. Mindestens. Irgendwann ist es einfacher, Süchte zu kennen, an denen man nicht leidet. Der Autor ist zum Beispiel nicht danach süchtig, in der «Tagesschau» dabei zuzusehen, wie eine Spritze in den Arm gerammt oder ein lineallanges Stäbchen durch die Nase bis zum Kleinhirn getrieben wird. Oder wenn Röhrchen mit Corona-Proben sortiert werden. Anders ist das mit der Werbung vor den Nachrichten, wenn das Land auf dem Sofa sitzt und auf rote Punkte starrt, die sich zu einer Eins vereinen. Und zwischendrin auf Aktionsangebote.
Das Cleansein, das man sich im Umgang mit der täglichen Dosis Corona-TV erarbeitet hat, wünscht man sich auch dort, wo man sich endlich etwas eingestehen sollte, was auch mit der pandemischen Gegenwart zu tun hat. Wie in der Stuhlgruppe der Suchtkranken also: «Hallo, also, hm, ich bin der Gerhard, und ich bin, äh, okay: Ich zähle meine Schritte. Immer. Überall. Ich brauche Hilfe.»
Erst Flaneur, dann Spaziergänger, auf einmal Powergeher
Der Einstieg in eine Suchtkarriere ist oft unauffällig. Dank Corona wurde man zunächst zum das Elend vergessen wollenden Flaneur. Dann zum Spaziergänger. Dann wurden die Spaziergänge weiträumiger. Dann auch häufiger. Langsam wurde man Powergeher. Auf einmal war man schon vor der Arbeit im Homeoffice zu Fuss unterwegs. Dann auch nach der Arbeit. Und schliesslich dachte man über die Möglichkeit nach, auch während des Arbeitens zu gehen. «I’m walking» ist der Sound der Stunde. Stehen ist das neue Sitzen? Kann schon sein, aber Gehen ist das neue Stehen. Und Zählen ist das neue Gehen.
Irgendwann fragte einen eine andere Spaziergängerin, die Frau also, die einen mit allem Charme angefixt und ins Verderben geschickt hat: Wie viele Schritte machst du so am Tag? So wurde man bekannt mit einer App auf dem Smartphone, die man bis dahin gerne ignoriert hatte: die App mit dem Herzsymbol. Es ist, wie man jetzt weiss, das Herz der Finsternis.
Man geht nirgendwohin, man bleibt gehend bei sich
Die Datensammelwut-App sagt: «Diese Woche hast du weniger Schritte pro Tag geschafft als in der letzten Woche.» Würde einem die Chefin sagen, man würde irgendwas weniger schaffen als vergangene Woche, so würde man das Ganze an sich abperlen lassen. So aber springt man auf. Ist abends mal nicht die magische Marke von 10’000 Schritten erreicht, die sich einmal irgendjemand ausgedacht hatte und die zur wichtigsten Idiotenzahl des Universums wurde, dann tritt man, während man TV-Werbung guckt, noch etwas auf der Stelle. Man geht nirgendwohin. Man bleibt gehend bei sich. So verliert man jene Würde, die einem auch ein Coiffeur nach Wochen des Lockdown nicht zurückgeben kann.
Dem «Self-Tracking» entkommt man nicht. Man kann Schritte zählen oder Stufen, Bike-Kilometer oder Schwimmzüge, man kennt den Kalorienverbrauch, die Herzfrequenz und die Tiefschlafphasen. Das Erbsenzählen hat die Weltherrschaft übernommen. Man zählt und zählt und zählt – und sehnt sich nach einer Existenzbestätigung vom Telefon oder der Uhr. Hilfe!
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Gähn, gibt es schon lange vor Corona, gibt schliesslich auch Rabatt bei der Krankenkasse für mehr Schritte