Es beginnt im Migros vor dem diversifizierten Joghurt-Regal. Bio? Altnatura? Griechisch, Budget, normal? «Wenn man sich nicht entscheiden kann, gibt es kein falsch», das Echo einer schwammigen Lebensweisheit hallt in meinem Kopf wider. Wieder dieser absurde Individualrelativismus. Und dann wahrscheinlich sollte ich auch noch auf das Bauchgefühl achten. Obwohl dies im Fall des Joghurts sogar noch Sinn ergeben würde, gebe ich zu, spüre ich mittlerweile meinen Körper gerade gar nicht mehr und beginne meine zweiminütige, kognitiv intensive und natürlich wortlose Argumentation.
Ich argumentiere von beiden Seiten mit Absolutismen und Superlativen. Relativ anstrengend.
Die Wahl des Besseren und Passenderen ist für Kopfmenschen mit einem hohen externen und internen Harmoniebedürfnis und einem noch höheren Moralanspruch eine Herausforderung. Ein Teil in mir weint bitterlich, wenn ich mir vorstelle, dass das Joghurt im Nicht-Bio-Fall Milch von Kühen enthält, die mit mehr als 5 Prozent Kraftfutter ernährt wurden. Gleichzeitig lache ich mir ins Fäustchen, dass ich ganze 35 Rappen eingespart habe, die ich später für meinen lang ersehnten Cappuccino einsetzen kann.
Geht es aber beispielsweise um den Beginn einer neuen Ausbildung, sind die Konsequenzen natürlich noch verheerender. Entweder oder. Ich scheide mich von einer Alternative und dem damit verbundenen Domino-Zirkus. Ich argumentiere von beiden Seiten mit Absolutismen und Superlativen. Relativ anstrengend.
Ich habe Angst, durch das Scheiden mit einer Option womöglich den falschen Weg eingeschlagen und es somit vermasselt zu haben.
Entscheidungsschwierigkeit ist aber eigentlich nur das Symptom der tiefgründigen Angst, und zwar der Selbstverantwortung. Ich habe Angst, durch das Scheiden mit einer Option womöglich den falschen Weg eingeschlagen und es somit vermasselt zu haben, die idealisierte Version meines Selbst zu sein und mein Leben nicht zu 100 Prozent auszukosten.
Sicherheit ist Illusion, ebenso wie die arrogante Idee, seinem Leben rational die Weichen stellen zu können.
Mein individualistisches Ich schaukelt im Meer der tausend Möglichkeiten hin und her. An Bord steure ich scheinbar wie eine kompetente und zielsichere Matrosin in die weite See, innerlich warte ich sehnsüchtig wie ein entspannter Luftmatratzen-Touri darauf, dass die perfekte Welle mich wieder ans sichere Land spült. Sicherheit ist Illusion, ebenso wie die arrogante Idee, seinem Leben rational die Weichen stellen zu können. Faktor Zufall darf – nein muss – man auch noch mitberechnen. Zu erkennen, dass meine Einschätzung zumal mangelhaft ist und dass Entscheidungen nie ganz deduktiv erdenkbare und determinative Konsequenzen haben, ist irgendwie befreiend.
Keine falsche Entscheidung also? Vielleicht liegt die Selbstverantwortung nicht unbedingt darin, wie, sondern weshalb ich mich für oder gegen etwas entscheide. Die Intention reflektiert schliesslich, was uns wichtig ist. Weder Kopf noch Bauch, sondern das Herz entscheidet. Folgen wir ihm, so gehen wir den relativ richtigen Weg. Wohin er führt? Zum Leben. In diesem Sinne sind es mir die 35 Rappen doch wert.
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ge-«Pfeffer»-te Gedanken – Herz über Kopf entschieden
Richtig oder falsch? Heute kann selbst der Kauf eines Joghurts eine tiefgreifende moralische und philosophische Frage sein.