«Heute sind wir sprachlos»
Nahe Washington hat ein 38-Jähriger fünf Mitarbeiter einer Lokalzeitung erschossen. Die Redaktion trauert – und berichtet.
Einen Tag nach dem Angriff auf eine US-Lokalzeitung haben trauernde Journalisten ihrer getöteten Kollegen in der neuen Ausgabe ihres Blattes gedacht. «Wir sind untröstlich, am Boden zerstört. Unsere Kollegen und Freunde sind weg», schrieb der Herausgeber der «Capital Gazette», Rick Hutzell, auf der Titelseite, die das Blatt am Freitag vorab über Twitter veröffentlichte.
«Heute sind wir sprachlos», heisst es in dem ebenfalls über Twitter verbreiteten Leitartikel. «Diese Seite wird heute absichtlich leer gelassen, um der Opfer zu gedenken.» Es folgen die Namen der Getöteten.
Am Samstag werde das 1727 in Annapolis gegründete Blatt zu seiner gewohnten Berichterstattung zurückkehren, hiess es dort. Unter den Getöteten war auch der verantwortliche Redakteur der Seite. Die Titelseite zeigte Fotos der fünf Toten.
In der Redaktion der «Capital Gazette» in Annapolis bei Washington hatte ein 38-Jähriger am Donnerstagnachmittag (Ortszeit) fünf Menschen erschossen. Unter den Opfern sind eine Verkaufsassistentin, die erst seit kurzem bei dem Blatt arbeitete, sowie eine Lokalreporterin und Kolumnistin. Getötet wurden auch ein langjähriger Sportjournalist, ein Leitartikel-Autor und der stellvertretende Chefredaktor. Zwei Menschen erlitten Verletzungen.
Die Schüsse fielen im Newsroom der «Capital Gazette» in Annapolis. Karte: Google
Einige Journalisten arbeiteten nach der Tat mit ihren Laptops auf einem Parkdeck. Der Andruck wurde nach hinten verschoben. «Ich weiss nicht, wie viele Seiten es geben wird, aber wir arbeiten zu dritt», sagte der Reporter Chase Cook.
Erbitterter Rechtsstreit
Der Täter sollte am Freitagmorgen dem Haftrichter vorgeführt werden. Nach Berichten der «Capital Gazette» handelt es sich um einen Mann aus der Region, der mit dem Blatt seit Jahren einen erbitterten Rechtsstreit ausfechte. Die Polizei habe die Wohnung des Mannes abgesperrt.
Das Blatt habe 2011 über Belästigungsvorwürfe gegen den Mann berichtet. Daraufhin sei dieser vor Gericht gezogen und habe verloren.
Weder der Kolumnist, der damals berichtete, noch der damalige Herausgeber und Verleger arbeiteten heute noch für die Zeitung, zum Zeitpunkt des Angriffes seien sie auch nicht in der Redaktion gewesen. «Nach meinen Erkenntnissen war er (der Täter) verärgert über die Zeitung als Ganzes», sagte ein Polizeisprecher.
Der Mann sei in das Redaktionsgebäude eingedrungen und habe mit einer Schusswaffe um sich gefeuert, berichteten US-Medien unter Berufung auf die Ermittler. Diese hielten den Mann für einen Einzeltäter. Er habe unter anderem Flüssigkeiten dabei gehabt, um damit Rauch zu verursachen.
Schüsse durch Glastür
Als «Kriegsgebiet» beschrieb ein Reporter der «Capital Gazette» die Szenen nach dem Angriff. Er sei um sein Leben gerannt und musste dabei über die Leiche eines Kollegen hinweg springen, berichtete ein Fotograf des Blattes. Nach Schilderung von Augenzeugen versteckten sich die Mitarbeiter unter Schreibtischen.
Der Schütze habe durch die Glastür des Büros geschossen und auf die Mitarbeiter gezielt, berichtete Phil Davis, Journalist der Zeitung. «Es gibt nichts Furchterregenderes, als zu hören, wie mehrere Leute erschossen werden, während du unter deinem Schreibtisch sitzt und dann den Schützen nachladen hörst.»
Die Polizei sei extrem schnell - binnen 60 Sekunden - am Tatort gewesen, sagte Steve Schuh von der Bezirksregierung des Anne-Arundel-County. «Die Beamten haben enormen Mut bewiesen und sind sofort ins Gebäude gegangen.» Dies habe Schlimmeres verhindert.
Täter teilweise kooperativ
Genaueres muss die Polizei nun mühsam ermitteln. Der Tatverdächtige wurde unmittelbar nach dem Geschehen stundenlang verhört. Er sei nur bedingt kooperativ, hiess es von der Polizei. Seine Wohnung sei durchsucht werden. «Die Ermittlungen sind das, was nun am längsten dauern wird», sagte Krampf.
Die Polizei sei extrem schnell am Ort des Geschehens gewesen, binnen 60 Sekunden, sagte Steve Schuh von der Bezirksregierung des Anne-Arundel-County. «Die Beamten haben enormen Mut bewiesen und sind sofort ins Gebäude gegangen.» Dies habe Schlimmeres verhindert. Zufällig hatten die Einsatzkräfte erst kürzlich für solche Situationen trainiert. «Wir hätten nicht besser vorbereitet sein können.»
Die Polizeikräfte waren am Tag des Geschehens sichtlich getroffen. «Mit diesen Leuten arbeiten wir fast täglich zusammen, manche sind Freunde», sagte Krampf über das Redaktionsteam. Laut Polizeisprecher Frashure arbeiteten alle Opfer für die Zeitung. In dem Gebäude befinden sich auch andere Büros und Arztpraxen. Die Polizei brachte rund 170 Menschen unverletzt in Sicherheit.
Redaktionen stärker bewacht
Die Tat von Annapolis schlug unmittelbar Wellen in der Medienlandschaft der USA. In New York verschärfte die Polizei die Sicherheitsmassnahmen für grosse Medieneinrichtungen. Eine reine Vorsichtsmassnahme, hiess es. Auch die «Washington Post» in der US-Hauptstadt, nur eine Autostunde von Annapolis entfernt gelegen, führte striktere Sicherheitskontrollen ein.
Das Attentat von Annapolis kommt in einer Zeit, in der der Präsident der Vereinigten Staaten einen Kleinkrieg gegen Journalisten führt und seriöse Medien als «Feinde des Volkes» bezeichnet. Es gab jedoch zunächst keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Tat mit der Anti-Medien-Kampagne Donald Trumps in Verbindung stehen könnte.
Drohungen über soziale Medien
Vor den tödlichen Schüssen hatte es nach Angaben der Polizei Drohungen gegen die Redaktion gegeben. Die Drohungen seien über soziale Medien ausgesprochen worden, sagte Polizeichef Bill Krampf in der Nacht zu Freitag. Details zu Inhalt und Urheber nannte er nicht.
Die «Capital Gazette» zählt zu den ältesten Tageszeitungen in den USA. Sie ist das Lokalblatt für die Region und gehört zur Gruppe der «Baltimore Sun». Annapolis hat 40'000 Einwohner und ist die Hauptstadt des Bundesstaates Maryland.
Trump äussert Mitgefühl
Trump drückte umgehend via Twitter sein Mitgefühl für die Hinterbliebenen aus und verurteilte die Tat. Seine Sprecherin Sarah Sanders schrieb: «Ein gewalttätiger Angriff auf unschuldige Journalisten ist ein Angriff auf alle Amerikaner.»
Kanadas Premierminister Justin Trudeau trauerte mit den Menschen im Nachbarland. «Journalisten erzählen die Geschichten aus unseren Gemeinden, sie schützen die Demokratien, und oft genug setzen sie ihr Leben aufs Spiel.»
Die Organisation Reporter ohne Grenzen zeigte sich «zutiefst schockiert» über den Vorfall. «Das ist eine neue Tragödie für den Journalismus, Opfer einer zunehmenden Gewalt gegen Journalisten auch in Demokratien», erklärte Generalsekretär Christophe Deloire.
In den vergangenen Monaten hatte es in den USA zahlreiche tödliche Schiessereien mit hohen Opferzahlen gegeben. Sie hatten die Debatte über Verschärfungen des US-Waffenrechts angeheizt. Trump unterstützt in dieser Debatte die mächtige Waffenlobby NRA, die jedwede Einschränkung ablehnt.
sda/afp/ft/scl/sep
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