Hitzköpfe mit Artillerie
Sie haben Libyen von Ghadhafi befreit – doch ein Jahr nach Beginn des Aufstands sind die Ex-Rebellen eines der grössten Probleme im Land. Alle Hoffnung gilt den Wahlen im Sommer.
Eine grosse offizielle Feier zum ersten Jahrestag des Umsturzes in Libyen wird es nicht geben. Die Begründung des Nationalen Übergangsrats lautet: «Aus Achtung vor den Märtyrerfamilien, den Verletzten und Vermissten», wie Regierungssprecher Mohammed al-Harisi sagte. Doch die Zurückhaltung der neuen Spitze dürfte mindestens noch einen anderen Grund haben: Seit ihrer Machtübernahme hat sie kaum Erfolge vorzuweisen.
Die Probleme Libyens wirken erdrückend: Waffenproliferation, schwer kontrollierbare und schwer bewaffnete Milizen, eine überalterte Infrastruktur, eine brachliegende Wirtschaft, Korruption, ein kaum vorhandenes Bildungs- und Gesundheitswesen sind nur einige der Probleme, die sich stellen. Angesichts dieser Herkulesaufgabe hat der nationale Übergangsrat entschieden, bis zu den Wahlen der Verfassunggebenden Versammlung im Juni alles auf Eis zu legen.
Hitzköpfe mit Artillerie
Ein besonders grosses Problem für die neue, noch um Autorität ringende neue Führung stellen die Milizen dar. Hervorgegangen aus den losen Streitkräften der Rebellen, sorgen diese schwer bewaffneten Kohorten neuerdings für Recht und Ordnung – beziehungsweise für das, was sie dafür halten.
Die Milizen setzen sich bunt zusammen: Studenten, Ex-Funktionäre des alten Machtapparates, Arbeitslose und auch viele Hitzköpfe, die in der Vergangenheit nicht zögerten, schon bei kleineren Konflikten gleich die Artillerie aufzufahren. Jedesmal gab es dabei Opfer. Die Thowars eint vor allem eins: Ihr fester Wille, nicht von ihren Waffen zu lassen. Sie «weigern sich, sie abzugeben», schrieb Hafedh al-Ghwell, ein Mitarbeiter der Weltbank, in einem jüngst veröffentlichten Bericht.
Integration von Kämpfern scheitert
Deshalb hatte es die neue Führung als eine ihrer vordringlichsten Aufgaben ausgegeben, die Milizionäre in Armee und Sicherheitskräfte zu integrieren. Doch die Erfolge sind bislang gering. Stattdessen üben die Ex-Rebellen an vielen Orten das Gewaltmonopol aus, bestimmen über das Recht, sichern strategisch wichtige Einrichtungen und betreiben Gefängnisse, in denen Ghadhafi-Anhänger sitzen.
In ihrem neuesten Bericht erhebt die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) schwere Vorwürfe gegen die früheren Rebellen: Seit vergangenem September sollen sie in mindestens zwölf Fällen ihre Gefangenen zu Tode gefoltert. Der Bericht stützt sich auf Angaben einer AI-Delegation, die sich in den vergangenen Wochen in Libyen aufhielt.
Rache statt Versöhnung
Demnach begehen die bewaffneten Milizen weitreichende Menschenrechtsverletzungen vor allem an mutmasslichen Anhängern des im vergangenen Oktober getöteten Machthabers Muammar al-Ghadhafi und verhindern so den Aufbau eines neuen Staates. Die Amnesty-Mitarbeiter suchten unter anderem elf Gefängnisse in Zentral- und Westlibyen auf. In zehn dieser Gefängnisse berichteten die Inhaftierten, sie seien gefoltert worden und zeigten ihre Verletzungen. Mehrere Gefangene berichteten, sie hätten die ihnen vorgeworfenen Verbrechen gestanden, nur um die Folter zu beenden.
«Die Milizen in Libyen sind weitgehend ausser Kontrolle. Die vollständige Straflosigkeit fördert zukünftige Menschenrechtsverletzungen und schafft ein Klima von Instabilität und Unsicherheit», wird Donatella Rovera, die Leiterin der Amnesty-Delegation, in einer Mitteilung zitiert. «Vor einem Jahr riskierten Libyerinnen und Libyer ihr Leben für Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenrechte. Heute sind ihre Hoffnungen in ernster Gefahr durch bewaffnete Gruppierungen, die die Menschenrechte ungestraft verletzen. Niemand darf über dem Gesetz stehen, Menschenrechtsverletzungen müssen untersucht und geahndet werden. Nur so kann mit den Praktiken der Ära Gaddafi gebrochen werden.»
Milizen «ausser Kontrolle»
Carsten Jürgensen, Mitglied der Delegation, kritisierte, dass die Milizen «ausser Kontrolle» seien. Vor einem Jahr hätten die Libyer «ihr Leben riskiert, um Gerechtigkeit zu fordern». Heute sei diese Gerechtigkeit «in grosser Gefahr: durch gesetzlose bewaffnete Milizen, die auf den Menschenrechten herumtrampeln, ohne dafür zur Verantwortung gezogen zu werden.»
Bereits im September forderte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) die libysche Führung auf, die schlechte Behandlung von Gefangenen zu stoppen und ein leistungsfähiges Justizsystem aufzubauen. Der Nationale Übergangsrat kündigte zwar im November die Annahme eines Gesetzes zum Justizwesen an, bis heute blieb er jedoch jede Angabe zum Inhalt des Gesetzes schuldig.
Alles muss warten
Von der Regierung unter Abdelrahman al-Kib werden erst einmal nur die laufenden Geschäfte erledigt. Die internationalen Konzerne, die sich für den Wiederaufbau des Landes in Stellung bringen, müssen warten. Warten muss auch die Bevölkerung auf eine deutliche Besserung ihrer Lebensbedingungen nach 40 Jahren autoritärer Herrschaft Muammar al-Ghadhafis. Gaddafi starb am 20. Oktober unter unklaren Umständen nach seiner Festnahme in seiner letzten Bastion Sirte.
Ein anderes Gesetz veröffentlichte der Übergangsrat Ende Januar auf seiner offiziellen Facebook-Seite: Das zur Wahl einer Verfassunggebenden Versammlung. Alles Augenmerk soll auf dem Urnengang im Juni liegen. Die Mission der Vereinten Nationen begrüsste die Bildung einer Wahlkommission in der Hoffnung auf gesetzmässige Wahlen – die ersten in Libyen seit mehr als 40 Jahren. Und die ersten, die das nordafrikanische Land wieder in Freiheit abhält.
Perteienlandschaft entsteht
Derzeit sind im Hinblick auf die Wahlen zahlreiche Parteien am Entstehen. Laut einem Bericht von «NZZ online» sollen allein in der Hauptstadt Tripolis rund 20 gegründet worden sein. Im Gegensatz zu Ägypten oder Tunesien, wo bereits Wahlen stattgefunden haben, gilt ein Erdrutschsieg der Islamisten in Libyen als weniger wahrscheinlich.
Freiheit gewährte der Nationale Übergangsrat auch den Gemeindeverwaltungen in der Frage, wie sie die «Revolution des 17. Februar» begehen wollen. Die Thowar wurden zugleich angewiesen, jede Art von Militärparade zu unterlassen – aus Angst vor Provokationen und neuer Gewalt. Freude und Furcht liegen im neuen Libyen nah beieinander.
AFP/ami
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch