Junger Jäger ist reingewaschen
Hatte der junge Jäger wissentlich die Ruhe eines sterbenden Rehs gestört? Dieser Frage musste sich am Mittwoch Richter Jürg Christen stellen. Er beantwortete sie mit Nein. Der Angeklagte habe annehmen dürfen, dass das Tier schon tot sei.

Das Reh sprang zweimal wieder auf und setzte seine Flucht fort, bevor es an jenem Abend im Spätherbst 2015 an einem dritten Ort verendete. Es habe nicht ungestört sterben können, und verantwortlich dafür sei die unsachgemässe Suchaktion eines jungen Jägers, fand die Staatsanwaltschaft. Sie stellte auf die Beobachtungen des Wildhüters ab, der sich am Morgen danach im Wald ob Vechigen mit seinem Hund auf den Weg machte.
Bevor er den Kadaver fand, stiess er auf zwei leere Wundbetten, wie die Lager, auf denen sich die getroffenen Tiere für ihre letzten Minuten niederlegen, in der Jägersprache heissen. Sie wiesen untrüglich darauf hin, dass das Tier vom Kegel der Taschenlampe oder von den Schritten des jungen Jägers gestört worden und mit der Kraft des letzten Überlebenswillens aufgeschreckt sei, so seine Interpretation.So stand der junge Mann gestern vor Richter Jürg Christen in Bern. Er wollte den Strafbefehl über 900 Franken, den die Staatsanwaltschaft wegen Verstosses gegen das Jagdgesetz erlassen hatte, nicht akzeptieren.
Denn vielleicht steckte hinter der Anzeige auch etwas anderes. Davon sprach Anwalt Franz Stämpfli in der Verhandlung. Er erinnerte daran, dass nicht der junge Jäger, sondern dessen Vater das Reh geschossen hatte. Und dass der Junior nur deshalb ins Spiel gekommen sei, weil ihn der Senior um Hilfe gebeten habe. Dieser sei nicht mehr gut zu Fuss und bei der Suche nach dem geschossenen Wild auf die Unterstützung Dritter angewiesen.
Die Wildhut
Die angeschlagene Gesundheit des Vaters, eines weitherum sehr angesehenen Jägers, wie Stämpfli betonte, hatte die Wildhut schon zuvor aktiv werden lassen. Sie verlangte zuerst ein Arztzeugnis, schickte ihn später auch noch zum Vertrauensarzt. In der Folge hätte der Senior nicht mehr allein jagen dürfen, worauf dieser den Regierungsrat anrief – und recht bekam. In dieser Situation, so der Anwalt, habe die Wildhut nur darauf gewartet, jemandem aus der Familie des Jägers einen Fehler unterschieben zu können.
Ob ein Handicap das aktive Jagen nicht von vornherein verunmöglicht? Richter Christen stellte die drängende Frage in den Raum, worauf ihm der Anwalt zu verstehen gab, entscheidend sei doch die Treffsicherheit. «Es gibt bekannte Jäger, die mit einem Bein leben müssen oder sogar im Rollstuhl sitzen.»
Der Experte
Zu Hilfe kam dem jungen Jäger, was Hans-Jörg Blankenhorn aussagte. Der Wildbiologe, aktive Jäger und frühere eidgenössische Jagdinspektor wurde gestern als Experte befragt, und er zog nach der Befragung den Schluss: «Ich hätte ähnlich gehandelt.»
Blankenhorn kam zurück auf die Ereignisse an jenem Abend im Spätherbst 2015, wie er sie aus den Akten kannte. Der junge Jäger hatte ausgesagt, an der Stelle, an der das Reh getroffen worden war, Blut in rauen Mengen gesehen zu haben. Er deutete dies als Zeichen dafür, dass das Tier gestorben sein musste, und folgte der deutlichen Spur, immer in der Meinung, gleich auf den Kadaver zu stossen. Zuerst 50 Meter übers Feld, dann 100 Meter durch lichten Wald und über einen Bach, wo er vor einem Dickicht aufgab und umkehrte. Das war zwei Stunden nach dem Schuss.
Bei so viel Blut habe der junge Jäger in guten Treuen davon ausgehen können, dass das Tier bereits tot sei, bekräftigte der ehemalige oberste Jagdaufseher der Schweiz. Mit Bedacht sprach er von einer Totsuche – und unterschied die Aktion so von der Nachsuche des Wildhüters am Morgen danach, die nur bei Tageslicht und nur mit einem ausgebildeten Hund stattfinden darf.
Der Freispruch
Richter Christen sah die Sache gleich und sprach den jungen Jäger frei. Das Reh habe zur Zeit der Suche wohl in der Tat nicht mehr gelebt, führte er aus. Damit sei die Wahrscheinlichkeit gross, dass es nicht wegen der Taschenlampe oder der Schritte des Angeklagten, sondern wegen eines anderen, unbekannten Einflusses aufgeschreckt sei.
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