WM-Silber für Marlen ReusserSie freute sich über Gold, dann «der Schock»
Die Bernerin holt nach Olympiasilber und EM-Gold WM-Silber. Es ist die erste Medaille, über die sie nicht frohlockt.

Der Boden der Realität ist eine Bordsteinkante im Zielraum der Rad-WM in Brügge – und in diesem Moment doppelt hart. Ausgepumpt hat sich Marlen Reusser von ihrer Zeitfahrmaschine zu Boden gleiten lassen, müde und glücklich zugleich. Das Glücksgefühl rührt von den Informationen her, die sie über Funk aus dem Begleitauto von Nationaltrainer Edy Telser erhalten hat. Sie liege in Führung, hat sie auf den letzten Kilometern da gehört. Entsprechend glaubt sie, ihr grosses Ziel WM-Gold erreicht zu haben. Wie bitter ist in diesem Moment das Realisieren, dass die Information falsch war, dass es nur Rang 2 statt 1 war? «Das war ein Schock», sagt sie.
Bei der Siegerehrung schafft sie es irgendwie, ihre Mundwinkel zu einem Lächeln nach oben zu ziehen. Kein Wunder: Im Zuschauerraum stehen ihre Angehörigen, sie sind extra fürs Rennen nach Belgien gereist – in der Hoffnung, an diesem Montag Gold und Reussers 30. Geburtstag zugleich feiern zu können.
Die überschäumenden Emotionen, für die sie bekannt ist, die sind in diesem Moment weit weg – das ist trotz Maske erkennbar. Auch in den Interviews danach ist da eine Nüchternheit, wie man sie von ihr noch kaum je gehört hat. «Ich bin sehr enttäuscht. Dafür kam ich nicht hierher. Zumindest kann ich glücklich sein für Ellen van Dijk, das macht es etwas einfacher», sagt sie.
Die enttäuschte Weltklasseathletin
Vielleicht ist das der Moment, in dem aus der staunenden Aufsteigerin Reusser eine typische Spitzensportlerin wird? Sie wirkt jetzt nicht mehr wie die Frau mit diesem so ungewöhnlichen Werdegang, die erst seit fünf Jahren Radrennen fährt und sich Saison für Saison wundert, zu welchen Leistungen sie imstande ist. Nein, sie wirkt nun wie eine Weltklasseathletin, die kompromisslos Rang 1 anstrebt und alles andere als eine Enttäuschung erachtet.
Das ist eine weitere Entwicklungsstufe in ihrer Karriere und eine, die sehr rasant gekommen ist. In Tokio jubelte sie noch überschwänglich über Olympiasilber. Dann kehrte sie zurück nach Europa und fuhr seither in jedem Rennen mit den Allerbesten mit. Sie gewann EM-Gold im Zeitfahren und stellte vor dem WM-Rennen klar: Gold wollte sie. Silber holt sie. Ergo Enttäuschung.
«Das ist einfach Zeitfahren: Du gewinnst, oder du verlierst.»
Irgendetwas ist immer, ist man bei Reusser geneigt zu sagen. Bereits in Tokio war ihr das Visier am Helm angelaufen. Damals hatte sie es unterwegs entnervt weggeworfen. Das ging dieses Mal nicht, weil sie es mit Klebeband befestigt hatte. Entsprechend war sie im Finale «blind» unterwegs, wie sie es formulierte. «In den Kurven war das ziemlich schwierig.»
«Da war immer diese Marlen Reusser»
Tatsächlich verliert sie das Rennen im letzten Drittel. Bei der ersten und der zweiten Zwischenzeit ist niemand schneller als Reusser. Ihre härteste Widersacherin an diesem Tag, Ellen van Dijk, kann sie aber nie um mehr als drei Sekunden distanzieren. Und im Finale, wo Reusser neben den schmerzenden Beinen auch mit ihrem beschlagenen Visier zu kämpfen hat, ist die Niederländerin eine Klasse für sich und übertrifft Reusser um letztlich zehn Sekunden. Sie weint Freudentränen, eben weil sie Reusser bezwingen konnte. «Ich war stets gut in Form diese Saison. Doch da war immer diese Marlen Reusser, die mich zuletzt in jedem Zeitfahren schlug. Darum wusste ich, dass ich mein bestes je würde fahren müssen», sagt die nun zweifache Zeitfahrweltmeisterin.
Reusser mag derweil nicht werweissen, was der finale Blindflug ausmachte: «Wenn du um ein paar Sekunden verlierst, kannst du die überall suchen. Doch das solltest du nicht machen. Wenn du nämlich um fünf Sekunden gewinnst, suchst du auch nicht die Gründe, warum das so war. Das ist einfach Zeitfahren: Du gewinnst, oder du verlierst.»
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