Trotz der vielen WasserkraftOhne Stromhandel läuft im Kanton Bern nichts
Seit dem Aus für das AKW Mühleberg wird weniger Strom produziert als verbraucht. Nun drohen mit der Energiekrise kantonale Verteilkämpfe.

Es ist ruhig im Handelsraum der BKW am Berner Viktoriaplatz. Trotz den verrückt spielenden Energiemärkten – und trotz dem Schreckgespenst der Stromknappheit, das umgeht.
Vor Dutzenden von Bildschirmen sitzen Trader und verfolgen konzentriert das Stakkato der Strom-Charts. Zuvorderst im Raum sind die Turbos: diejenigen, für die jede Sekunde zählt. Sie tätigen auf dem kurzfristigen Spotmarkt Abschlüsse für Strom, der innerhalb von Stunden, spätestens aber am nächsten Tag geliefert werden muss.
Weiter hinten im Raum sitzen die Händler, welche sich um den Terminmarkt und die langfristigen Stromlieferverträge kümmern. Rund hundert Angestellte sind bei der drittgrössten Schweizer Stromproduzentin im Handel tätig – viele von ihnen arbeiten hier im Handelsraum, dem Hirn der Berner Stromversorgung.

Durch den Preisschock ist das Geschäft mit dem Strom auf einmal in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Dabei ist Energiehandel eine alte Disziplin. Im Gegensatz zu anderen Gütern des täglichen Lebens ist Strom nicht direkt speicherbar. Heisst: Wer Strom produziert wie die BKW, der muss im gleichen Augenblick dafür einen Abnehmer haben.
Nie zu wenig, nie zu viel
Vereinfacht gesagt: In dem Moment, wo in der Schweiz ein weiterer Fernseher oder eine Kochplatte eingeschaltet wird, muss irgendwo ein Kraftwerk ein wenig mehr produzieren. Denn immer die richtige Menge Strom zu haben, ist für das Netz entscheidend.
Und da kommt der Handelsraum der BKW ins Spiel.
Steigt die Nachfrage nach Strom und damit auch der Marktpreis für die eigene Energie, dann wird im Handelsraum entschieden, beispielsweise die Turbinen an der Grimsel in Gang zu setzen. Oder die Trader werden auf den Strommärkten aktiv. «Der Handel der BKW sorgt für den Ausgleich zwischen der Erzeugung und dem Verbrauch», sagt BKW-Sprecher René Lenzin.
Aber nicht nur. Der Handel an den europäischen Spot- und Terminmarktbörsen dient der BKW auch zur Gewinnsteigerung. Wie viel sie mit den Strom-Deals effektiv umsetzt und welche Risiken sie dabei eingeht, dazu äussert sich die Berner Versorgerin nicht im Detail.
Wasserkraft ist entscheidend
Ist der Handelsraum der BKW das Hirn, so ist die Aare die Hauptschlagader der Berner Stromversorgung. Entlang des Flusses befinden sich die meisten grossen Kraftwerke des Kantons. Angefangen im Quellgebiet beim grössten, dem Verbund an Stauseen und Pumpspeichern der Kraftwerke Oberhasli (KWO). Es folgen ein Dutzend weiterer Wasserkraftwerke entlang des Flusslaufs von Interlaken über Mühleberg, Niederried und Hagneck bis Bannwil und Wynau.
Insgesamt stammen etwa 70 Prozent des im Kanton Bern erzeugten Stroms aus Wasserkraftwerken. Bis 2035 soll der Anteil des benötigten Stroms zu mindestens 80 Prozent aus erneuerbaren Quellen stammen.
Man könnte meinen, der Kanton könne sich gut selber mit Strom aus den heimischen Kraftwerken versorgen. Doch das ist seit der Abschaltung des Atomkraftwerks Mühleberg Ende 2019 nicht mehr so. Es brauche mehr Stromimporte, vor allem im Winter, warnte die Ex-BKW-Chefin Suzanne Thoma schon damals.
Doch ob das in diesem Winter gut geht, ist fraglich. In den beiden für die Schweiz wichtigsten Strombezugsländern Frankreich und Deutschland wird bereits über allfällige Verbote für Stromexporte diskutiert. Daraus könnte bitterer Ernst werden: Schon bei den Corona-Schutzmasken hatten beide Länder bewiesen, dass sie im Extremfall nicht davor zurückscheuen, Ausfuhren zu beschlagnahmen.
Und: Beim Strom sieht die Schweiz selber im Notfall Exporteinschränkungen vor. So steht es in den Grundlagen der Ostral, der Organisation für Stromversorgung in ausserordentlichen Lagen.
Selbstversorgung als Ziel
Die Kapazität zur Selbstversorgung wird damit zum zentralen Kriterium. Das Problem: Mit dem AKW Mühleberg ging die Produktion von rund 3 Terawattstunden (TWh) Strom pro Jahr verloren. Das entspricht rund 5 Prozent des Schweizer Stromverbrauchs. Gemessen am Stromverbrauch im Kanton Bern von 6,7 TWh waren es gar etwa 45 Prozent.
Mit ihren eigenen Kraftwerken und den Beteiligungen produziert die BKW zwar immer noch rund 9 TWh pro Jahr. Doch sie versorgt nicht nur den Kanton Bern mit Strom. Und rund 3 TWh (jährliche Schwankungen grob gerundet) werden in ausländischen Kraftwerken für die BKW produziert: vom französischen AKW Cattenom über fossile Kraftwerke in Italien und Deutschland bis hin zu Windkraftanlagen in Norwegen.
Weitere etwa 2 TWh bezieht die BKW aus Beteiligungen an Kraftwerken in anderen Kantonen, insbesondere in Graubünden und im Wallis.
Im Kanton Bern verbleibt somit eine Stromproduktion von rund 4 TWh. Hinzu kommen Wasserkraftwerke anderer Versorger, wie etwa der Stadtberner EWB oder der Bieler ESB. Aus neuen Erneuerbaren (Solar, Biomasse, Wind) kommen gemäss kantonaler Energiedirektion circa weitere 0,5 TWh. Ergibt total hochgerechnet knapp 5 TWh Strom, der im Kanton Bern produziert wird. Viel zu wenig, um den Verbrauch zu decken, insbesondere im Winter.
Verteilkämpfe befürchtet
Beim Bundesamt für Energie sieht man solches Kantönligeist-Denken nicht gerne, wie nach Anfragen klar wird. Der Bund pocht auf die eidgenössische Solidargemeinschaft zur Bewältigung des Strommangels. Schliesslich übernimmt der Bundesrat im Krisengremium Ostral das Zepter. Er hat einen Sparappell lanciert und würde dann auch zentral über Verbrauchseinschränkungen entscheiden und die Stromproduktion steuern.
Doch mittelfristig dürften Kantonsgrenzen bei der Stromversorgung wieder eine wichtige Rolle spielen. Schon jetzt zeichnen sich Verteilkämpfe um die begehrte Ressource ab: Diverse Kantone wollen die grossen Wasserkraftwerke auf ihrem Gebiet unter die eigene Kontrolle nehmen. Und damit selber Kasse machen, statt dass die Gewinne vorab an ausserkantonale Energieversorger fliessen.
Auch die BKW muss befürchten, ausserkantonal Beteiligungen und Bezugsrechte zu verlieren. Graubünden will Wasserkraftanlagen nach Ablauf der jetzigen Konzessionen übernehmen und den sogenannten Heimfall ausüben. Letzten Winter hat das Kantonsparlament diese Strategie verabschiedet.
Im Wallis streben Kanton und Gemeinden künftig nach Mehrheitsanteilen von mindestens 60 Prozent. Bislang gehören 80 Prozent der Walliser Wasserkraftanlagen ausserkantonalen Energiekonzernen.
Auch im Kanton Bern wird der Heimfall zum Thema. Ab 2037 laufen erste grössere Konzessionen ab, der grosse Brocken mit den KWO folgt 2042. Die an den KWO beteiligten Elektrizitätswerke von Basel-Stadt und der Stadt Zürich sorgen sich um ihre Anteile, wie diese Redaktion weiss.
Blockierte Berner Ausbauprojekte
Zudem müssten für die Ausbauprojekte Trift, Grimsel und Oberaar die Weichen gestellt werden, damit Investoren Klarheit haben. Der Ball liegt teils beim Kanton Bern. Er muss auf Geheiss des Bundesgerichts zuerst den Richtplan anpassen und definieren, wo er Wasserkraft nutzen will und wo der Naturschutz vorgeht.
Die Ausbauprojekte sind blockiert nach Einsprachen von Umwelt- und Wasserschutzverbänden. Beim Grimsel-Projekt hat nun das nationale Parlament eingegriffen. Es hat ein dringliches Gesetz verabschiedet, damit die Staumauer rasch erhöht wird. Mit dem Bau des Trift-Speichersees und der Erhöhung der Staumauern am Grimsel- und am Oberaarsee könnten rund 0,45 TWh mehr Strom produziert werden. Das entspricht dem ungefähren Jahresverbrauch von 100’000 Schweizer Haushalten.
Für Wind wird das Potenzial auf 0,5 bis 1,2 TWh beziffert. Doch ohne Lockerungen bei den Bewilligungsverfahren könne in den nächsten Jahren «mit keinem massiven Zubau» gerechnet werden, heisst es beim Regierungsrat. Beträchtlich ist das Potenzial der Biomasse zur Stromproduktion: 7,3 TWh. Doch dies sei ein theoretischer Maximalwert, der noch nicht verifiziert sei.
Gar grösser als der aktuelle Strombedarf ist das Potenzial an Solarstrom. Gemäss Energiedirektion sind es 7,2 TWh pro Jahr. Allerdings müsste dafür jede geeignete Dachfläche mit Solarpanels bestückt werden. Und das Problem des mangelnden Winterstroms wäre etwas entschärft, aber nicht gelöst.
Bis es so weit ist, blicken die Verantwortlichen vom Kanton und die Stromhändler vom Viktoriaplatz nervös ins Berner Oberland. Ihre Aufmerksamkeit gilt den Pegelständen der Speicherseen der Kraftwerke Oberhasli. Die positive Nachricht: Aktuell sind diese mit knapp 90 Prozent gut gefüllt.
In einer früheren Ausgabe dieses Artikels haben wir geschrieben, im Handel der BKW arbeiteten rund dreihundert Menschen. Das ist falsch: es sind rund hundert. Der Fehler wurde korrigiert.
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