Musical im Stadttheater«Paradise City» 12 points
Das Musical von Schauspielchef Cihan Inan sorgt bei der Premiere für Standing Ovations. Kein Zufall: Konzert Theater Bern scheut für die ESC-Hommage keinen Aufwand.

Zum krönenden Schluss kommt es dann doch noch. «Io senza te» von Peter, Sue & Marc darf nicht fehlen, wenn die Schweizer Eurovision-Song-Contest-Hits gesungen werden. Mit dem letzten Ton entfährt in der 6. Reihe des Stadttheater-Parketts einem Pensionär ein «Yeah!». Es ist Marc «Cuco» Dietrich, der 1981 mit Sue Schell und Peter Reber in Dublin auf der Bühne stand und den 4. Platz holte.
Nicht nur Dietrich ist begeistert. Zur Premiere des Musicals «Paradise City» gibt es Standing Ovations. Im Musical von Cihan Inan stimmt vieles. Der Schauspieldirektor, der Ende Saison abtreten wird, verknüpft im zweieinhalbstündigen Stück eine Liebeskomödie mit dem ESC-Liedgut. Dramen, Missverständnisse, ein Verbrechen und viel Sehnsucht und Liebe gibt es – also alles, was das Herz begehrt.
Das Paradies in Gefahr
Alles, was das Herz begehrt: Das verspricht auch jedes Shoppingcenter. Im «Paradise City» gibt es ein Café, die Wäscherei «Süper clean», einen Schönheitssalon, ein Fitnessstudio für Frauen und eine Kondomeria. Doch das Paradies ist in Gefahr. Weil zu wenig Profit erzielt wird, machen die Investoren Druck, die Schliessung droht. Die Hoffnung: Das anstehende Ostergeschäft und die Präsentation des neuen Parfüms «Gimme More» sollen den nötigen Schwung bringen. Doch dann erleidet das Maskottchen (ein Hase) einen Herzinfarkt. Und irgendjemand sabotiert den bevorstehenden Event. Wer nur zerstört jede Nacht das Leuchtplakat, das darauf hinweist?
Der beflissene Sicherheitschef Walter (Tobias Bonn) ermittelt. Natürlich stehen zunächst alle unter Verdacht. Das Personal ist so schrill wie liebesbedürftig. Da ist Mahmut (Luka Dimic) aus der Wäscherei, der heimlich auf Hannah (Florentine Krafft) steht und jeden Morgen eine Rose vor den Beauty-Salon legt, wo Hannah arbeitet. Zusammen mit Eva (Chantal Le Moign), die mit Walter anbandelt. Immer wieder zu Gast ist die Vreni (Heidi Maria Glössner), eine liebestolle ältere Dame mit dem Hang zum frivolen Ausdruck («Deine Möse braucht keine Röse»).
Oder war Feministin Carola (Irina Wrona) die Übeltäterin? Sie ist die männerhassende Drillmeisterin im Fitnesstudio, aber wider Erwarten keine Lesbe. Kiki (Christoph Marti) ist eine Frau im Männerkörper – unübersehbar eine Reminiszenz an die legendäre Bernerin Coco, die selbst auch schon Musicalstoff von Konzert Theater Bern war. Das Shoppingcenter ist eine abgeschlossene Welt und dreht sich entsprechend um sich selber. Und so dreht sich die wunderbare dreistöckige Mall auch um die eigene Achse. Schade nur, dass die Rolltreppe nicht läuft. (Bühne: Stephan Prattes)

Die Liebe gewinnt
Alles löst sich auf, die Liebe gewinnt, so viel sei verraten. Auch wenn viele relevante und aktuelle Themen mitschwingen – multikulturelle Gesellschaft, Feminismus, Schönheitswahn, Ladensterben – mehr Tiefe ist da nicht. Mehr braucht es allerdings auch nicht für gute Unterhaltung, und die bietet das Musical unbestritten. Kombiniert mit perfektem Timing, Witz und musikalischer Präzision wird der Abend zur runden Sache – und zum Schluss mitreissend.
Unter der Leitung von Inga Hilsberg ist das Berner Symphonieorchester eine veritable Rockband – wobei Zuzüger an Gitarre, Bass und Schlagzeug mithelfen. Viel Musical-Know-how hat auch Komponist und Arrangeur Kai Tietje eingebracht. Ein halbes Dutzend Musicalsängerinnen und Musicalsänger, die auch Nebenrollen spielen, sorgen im Hintergrund für satt gesungene Refrains. Ohne Zweifel: Schauspielchef Cihan Inan und Regisseur Stefan Huber überlassen in dieser aufwendigen Produktion nichts dem Zufall.
Florentine Krafft ganz stark
Auch auf der Bühne tragen zunächst die gesanglich starken Zuzüger wie Tobias Bonn, Christoph Marti und Diego Valsecchi das Ganze. Valsecchi spielt den Schauspieler Martin, der von einer grossen Schauspielkarriere geträumt hatte und folgerichtig «Cinéma» (Paola, ESC 1980, Rang 4) anstimmt, aber als Ersatzmaskottchen im Hasenkostüm endet.
Doch je länger der Abend dauert, desto mehr spielt und singt sich doch eine Schauspielerin aus dem KTB-Ensemble in den Vordergrund. Florentine Krafft ist eine Wucht und sorgt etwa in «La vita cos’è» (Jane Bogaert, ESC 2000, Rang 20) für Gänsehaut. Dafür, vielleicht für den ganzen Abend, gäbe es beim Eurovision Song Contest die Höchstnote. 12 Points!
Nächste Aufführung am 9. Oktober. Vorstellungen bis 18. März.
Michael Feller schreibt über Menschen auf und hinter der Bühne. Er ist stv. Leiter Kultur.
Mehr Infos@mikefelloniFehler gefunden?Jetzt melden.