«Einzelabschüsse sind keine Lösung»
Reinhard Schnidrig vom Bundesamt für Umwelt entwarnt: So bald komme es in der Schweiz nicht zu mehr Wolfsabschüssen. Der Nationalrat habe vielmehr die «pragmatische Schutzstrategie der Zukunft» eingeläutet.

«Erst die Rinder, dann die Kinder.» Wie wahrscheinlich ist es, dass dieses von Nationalrat Roberto Schmidt (CVP, VS) genannte Schreckensszenario in der Schweiz Tatsache wird? Reinhard Schnidrig: Die Wahrscheinlichkeit ist praktisch gleich null. Der Mensch steht definitiv nicht auf dem Speiseplan des Wolfs. Die Aussage von Nationalrat Schmidt entbehrt jeglicher fachlichen Grundlage. Die in diesem Zusammenhang oft zitierten Berichte aus andern Ländern entpuppen sich bei genauerem Hinsehen immer als ausgesprochen selten auftretende Ausnahmefälle, wo Krankheiten oder krasses Fehlverhalten der Menschen im Spiel waren. Wölfe hatten bei uns über Jahrhunderte vom Menschen nie Gutes zu erwarten. Entsprechend sind sie scheu und weichen dem Menschen aus.
Wird der Wolf künftig im «Idealfall» bereits an der Schweizer Grenze abgeschossen oder erst, wenn er Schafe gerissen hat? Das heute gültige Konzept bleibt auch nach der Debatte im Nationalrat vom 30.September in Kraft. Zurzeit gibt es ja auch erst 15 bis 20 Einzeltiere. Sicher ist: Wölfe werden weiter ungefragt über die Grenze kommen. Und sie werden auch bald in unserem eigenen Land für Nachwuchs sorgen. Erst wenn sich dann ein Wolfsbestand gebildet hat, greifen die neu vorgesehenen Regulationsinstrumente.
Der Entscheid des Nationalrates wird demnach nur zögerlich umgesetzt. Im Gegenteil: Das Departement für Umwelt wird noch dieses Jahr eine Vorlage für die Teilrevision der eidgenössischen Jagdverordnung in die Anhörung schicken, die genau im Sinne der Entscheide des Nationalrates ausgestaltet ist. Parallel dazu müssen die diversen Wolfsmotionen aber noch im Ständerat diskutiert werden. Erst dann sind die Vorstösse für den Bundesrat verbindliche Mandate. Von National- und Ständerat gutgeheissen wurde ja erst die Motion von Jean-René Fournier zur Abänderung der Berner Konvention (siehe Text rechts). Wenn auch der Ständerat die andern Vorstösse annimmt, kann der Bundesrat die Jagdordnung und das Bundesamt für Umwelt anschliessend das Wolfskonzept anpassen.
Wie? Der Bundesrat hat in seiner Antwort auf die Motion von Nationalrat Hansjörg Hassler und in seiner Rede vor dem Nationalrat gesagt, dass alle diese Forderungen nach erleichterter Regulation erst relevant sind, wenn sich der Wolf in der Schweiz flächig ausgebreitet hat und sich ein Wolfsbestand mit regelmässiger Fortpflanzung bildet. Und natürlich auch erst, wenn sich der Herdenschutz überall etablieren konnte. Doch davon sind wir noch weit entfernt.
Wäre in der Schweiz auch das französische Modell der bewaffneten Hirten denkbar? Ja, aber nur innerhalb von einigen Richtlinien. Der Bund würde gemäss dem eidgenössischen Jagdgesetz Rahmenbedingungen aufstellen. So müssten die Hirten eine Jagdprüfung vorweisen können und damit an der Waffe ausgebildet sein. Zudem müsste ein optimaler Herdenschutz organisiert sein. Erst dann dürfte ein Wolf beim Angriff auf eine Herde erlegt werden. So machen es auch die Franzosen. Ob dann die Hirten tatsächlich Jagdgewehre bei sich führen dürfen, müssen aber die Kantone entscheiden.
Schafhalter haben dank dem Nationalratsentscheid auf der ganzen Linie gewonnen: Der Wolf darf abgeschossen werden, und Herdenschutzmassnahmen sind nicht mehr nötig. Nein, das ist keinesfalls so. Es ändert sich unmittelbar und wahrscheinlich auch die nächsten Jahre nichts. Wir arbeiten weiterhin nach dem heutigen Konzept «Wolf Schweiz». Zurzeit befinden wir uns in der Phase der Ausbreitung des Wolfs und damit erst am Anfang der Rudelbildung. Die wichtigsten Eckpfeiler des Umgangs mit dem Wolf in dieser Phase sind der Schutz der Nutztierherden und der Abschuss von einzelnen Wölfen, die trotz Herdenschutzmassnahmen grosse Schäden anrichten.
Letztlich muss aber jeder Wolf in der Schweiz damit rechnen, dass er abgeschossen wird. Tja, je nachdem, wie viele Nutztiere ein Wolf trotz Herdenschutzmassnahmen reisst. Das Bundesamt für Umwelt beabsichtigt zurzeit nicht, die Kriterien für Abschüsse zu ändern. Ausser langen Diskussionen würde ein solches Unterfangen auch nichts bringen. Der 30.September wird also nicht sofort zu mehr Wolfsabschüssen führen, sondern dieser Tag hat erst den nächsten Schritt eingeläutet für eine pragmatische Schutzstrategie der Zukunft. Der Wolf ist und bleibt über das nationale Recht geschützt. Aber mit den getroffenen Entscheiden kann dann in der Phase eines etablierten Bestandes eine vernünftige, behördliche Regulation mit Augenmass aufgezogen werden.
Trotzdem: Schafhalter, die weder Mühe noch Kosten scheuten und Herdenschutzhunde anschafften, sind nun die Dummen. Nein, sie werden die Gescheiten und die Fortschrittlichen bleiben. Schafhalter, die sich jetzt zurücklehnen, werden leider mit toten Schafen bestraft. Der Nationalrat, das Bundesamt für Umwelt und ich können das nicht ändern. Die Wölfe sind da und werden sich vermehren. Weitere werden einwandern, und alle werden sie nicht geschützte Schafe reissen. Der Herdenschutz bleibt die zurzeit beste und einzige Lösung für den Umgang mit dem Wolf. Wir wissen heute alle: Einzelabschüsse sind keine nachhaltige Lösung. Eine Ausrottungsstrategie wird nie die Politik unseres Landes sein können. Ich empfehle den Schafhaltern wirklich, mit dem Blick einer «Pro-Schaf-Strategie» beim Herdenschutzprogramm des Bundes einzusteigen.
Der Wolfsabschussentscheid des Nationalrates macht die Herdenschutzmassnahmen des Bundes demnach nicht überflüssig? Nein, im Gegenteil. Der Bund will und muss sein Engagement für den Herdenschutz verstärken und nachhaltig sichern – sowohl rechtlich wie finanziell. So fordert es die Motion von Hansjörg Hassler, und so will es auch der Bundesrat. Zurzeit sucht eine Arbeitsgruppe des Bundesamtes für Umwelt und des Bundesamtes für Landwirtschaft im Auftrag des Bundesrates Lösungswege für den flächigen Herdenschutz der Zukunft. Ein Bericht zuhanden der obersten Exekutivbehörde ist im Frühsommer 2011 zu erwarten. Selbstverständlich wird das heutige Herdenschutzprogramm weitergeführt und weiter ausgebaut.
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