Stolz, Schweiss und Sägemehl
Schwingen gilt als Nationalsport par excellence. Warum eigentlich? Der Versuch einer Deutung durch die Augen eines Neulings am Oberaargauischen Schwingfest.
Schwingen ist trendy, wie einer der Redner während des Festaktes am Pfingstsamstag bemerkte. Das darf man guten Gewissens behaupten: Die Vereine verzeichnen steten Zuwachs, die Feste sind gut besucht, und Spitzenschwinger erhalten den Status von Promis. Das Interesse am Sport nimmt auch medial zu und wird so ins ganze Land getragen.
Warum das so ist? Man könnte argumentieren, dass in einer sich rasant verändernden Welt der Mensch sich an seine Wurzeln klammert, um nicht im Strudel der Globalisierung unterzugehen. Oder weil eine Überfülle an Lebensmodellen besteht, die den Menschen überfordern, und er als Gegenreaktion darauf sich auf die eigenen Traditionen besinnt – letztlich muss man die Deutungen den Soziologen und Psychologen überlassen. Was seit Jahren jedoch auffällt, ist, dass an den Schwingfesten selbst urbane Hippster auf die Tribünen drängen, um sich ihre Dosis schweizerischen Brauchtums abzuholen.
«Als wir jung waren, war Schwingen für uns peinlich. Lieber gingen wir nach Langenthal in die Disco.»
Das war nicht immer so. Eine Besucherin, selbst Bäuerin aus der Region, sagt dazu: «Als wir jung waren, war Schwingen für uns peinlich. Lieber gingen wir nach Langenthal in die Disco.» Aber die Zeiten ändern sich. Als der Sohn damit angefangen habe, hätten die Eltern ihn zuerst ins Training gefahren, seien dann mit ihm an die Feste gegangen – und so bereits vor Jahren eifrige Unterstützer des Sports geworden.
Für den Schreibenden ist es der erste Besuch an einem Schwingfest, die Eindrücke eines Aussenstehenden ohne Kenntnisse des Sports sind gefragt. Zur seriösen Vorbereitung gehört natürlich immer auch eine historische Recherche. Man wird schnell fündig bei Jeremias Gotthelf, der wortgewaltig den Einzug von Emmentalern und Oberländern in einem österlichen Schwinget etwa in der Mitte des 19. Jahrhunderts beschreibt: «Es geschieht zuweilen, dass sie nach uralter Weise ihren berühmtesten Kämpfer an Ketten bringen, zum Zeichen, dass seine ungemessene unbändige Kraft nur mit Ketten zu fesseln sei und einmal losgelassen, sich vor ihr wahren solle, wer da könne und möge.»
Das war zwar in Schwarzenbach nicht der Fall, aber so bekommt man eine Ahnung, warum die besten Schwinger traditionell als die «Bösen» bezeichnet werden. An Ketten gebracht wurden letztlich nur die Lebendpreise, die den fünftausend Zuschauern präsentiert wurden, allen voran der Muni Rendito. Mit etwas Erstaunen registriert der Neuling, dass nicht nur Züchter namentlich genannt werden, sondern auch Vater und Mutter der Tiere – denn Abstammung ist natürlich wichtig, und es wird auch konsequent durchgezogen: Bei den Schwingern wird ja beispielsweise zuerst der Familienname genannt, sodass auch hier sofort klar wird, wer woher kommt.
Gerungen wurde schon immer überall, da ist die Schweiz keine Ausnahme. Ringen ist vermutlich die einfachste Form von Kräftemessen, auch wenn viel mehr Technik dahintersteht, als auf den ersten Blick ersichtlich wird. Es ist jedoch ein Detail, das den besonderen Reiz der schweizerischen Version ausmacht: Nachdem der Verlierer sich erhebt, wischt ihm der Gewinner das Sägemehl von den Schultern. Diese Geste des Respekts ist Ausdruck tiefer Menschlichkeit und fängt die zugrunde liegenden Werte von Kollegialität, Fairness und Demut ein. Keine schlechten Eigenheiten für einen Nationalsport.
Nicht hoch genug kann zudem das Werbeverbot angerechnet werden. Ein Journalistenkollege sprach mit reichlich Pathos und Demut vom «heiligen Boden», auf dem geschwungen wird und kein Platz für Kommerz ist. Auf jeden Fall ist es in Zeiten allgegenwärtiger Werbung äusserst angenehm, für eine Weile davon verschont zu bleiben. Da der Schwingsport ein Amateursport ist, dessen Feste zumeist von Freiwilligen durchgeführt wird, kann er sich das leisten.
Der Milizgedanke dahinter ist ja eine weitere schweizerische Eigenheit, die auch dazu beiträgt, dass solche Feste letztlich der Allgemeinheit zugutekommen. «Die Schwingerfamilie», wie die Anwesenden von den Rednern angesprochen wurden, kann also durchaus stolz darauf sein, Anlässe zustande zu bringen, die sich nicht nur an Sportinteressierte richten, sondern an alle, die an einem entspannten Volksfest ihre Freude haben. So verwundert es auch nicht, dass der Schwingsport einen Aufschwung erlebt.
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