Schönbergs harmonische Kühnheiten
Die Schlosskonzerte Thun bieten viele Rosinen für Klassikfans. Am Galakonzert ist Schönbergs «Pierrot lunaire» zu hören, dessen Geschichte so manchen Eklat zutage fördert.

Ein fetter Skandal ereignete sich am sächsischen Hofe im Jahr 1903: Prinzessin Luise von Österreich-Toskana, Gemahlin des sächsischen Kronprinzen Friedrich August, brannte mit dem Hauslehrer ihrer fünf Kinder, das sechste war bei der Geburt gestorben, nach Genf durch – mit dem siebten war sie schwanger.
Rechtsanwalt Felix Zehme, der Luise rechtlich vertrat, wusste die katholischen Klippen der Scheidung bestens zu umschiffen, was seiner Karriere gut tat. So konnte er sich künftig als Kunstmäzen betätigen und heiratete Albertine Aman.
Die Schauspielerin, Sängerin, Rezitatorin und nun Rechtsanwaltsgattin war Auftraggeberin und erste Interpretin eines der Schlüsselwerke der modernen Musik des 20. Jahrhunderts: Arnold Schönbergs «Pierrot lunaire».
Im Jahr 1912 entdeckte Albertine den Komponisten Schönberg und bestellte ein Werk für Sprechgesang und Klavier nach dem ins Deutsche übersetzten absurd-expressionistischen Gedichtzyklus «Pierrot lunaire» (1884) von Alfred Giraud. Schönberg hatte schon vorher in den Gurreliedern (1903–11) Sprechgesang eingesetzt und Erfahrung als Kabarettkomponist.
Er erweiterte die Besetzung auf mehrere Instrumente. Er fand zwar noch nicht zur Zwölftontechnik, doch zu neuen harmonischen Kühnheiten bei minimalistischer Form und Instrumentierung. Er schrieb, er fühle, dass er eine absolut neue Ausdrucksform erreicht habe. Die Klänge würden zu «einer fast animalischen unmittelbaren Manifestation sinnlicher und psychischer Bewegungen».
Überfordertes Publikum, geächtete Kunst
Als Begründer der Neuen Wiener Schule forderte Arnold Schönberg Anfang des 20. Jahrhunderts mit seiner Musik sein Publikum heraus. Zur Aufführung von «Pierrot lunaire» schrieb das «Prager Abendblatt» am 24. Februar 1913: «Der Kammermusikverein – sonst die Stätte für schönes Können und Gönnen – wurde gestern zur Stätte hässlich schrillen Streites.
Man hat in den der Harmonie geweihten Hallen des Rudolfinums (Prager Konzert- und Galeriegebäude) eine solche Disharmonie niemals erlebt.» Der Österreicher Arnold Schönberg war Komponist, Musiktheoretiker, Kompositionslehrer, Maler, Dichter und Erfinder. Er stammte aus einer jüdischen Familie, emigrierte 1933 in die USA, denn er begriff früh, wie gefährlich es sein würde, in Europa zu bleiben.
Der nationalsozialistische Staatsrat Hans Severus Ziegler urteilte bei einer Düsseldorfer Propagandaschau: «Da die Atonalität ihre Grundlage in der Harmonielehre des Juden Arnold Schönberg hat, so erkläre ich sie für das Produkt jüdischen Geistes. Wer von ihm isst, stirbt daran.» Schönberg arbeitete neben seinem künstlerischen Schaffen in Kalifornien als Musikprofessor und nahm 1941 die Staatsbürgerschaft der Vereinigten Staaten an.
Violinistin als Sprech-Sängerin
Unter der Leitung der moldauisch-österreichisch-schweizerischen Violinistin Patricia Kopatchinskaja, dem Schlosskonzerte-Publikum bestens bekannt, ist die Camerata Bern mit einem exklusiven Programm in Thun zu Gast. Im Zentrum des Abends steht «Pierrot lunaire». Dafür wird die 42-Jährige für einmal nicht als Geigerin, sondern als Sprecherin in Erscheinung treten, ganz im Sinne von Albertine Zehme.
Kopatchinskajas Repertoire reicht von Barock und Klassik bis hin zu neuen Auftragsarbeiten und Neuinterpretationen moderner Meisterwerke. «Pierrot lunaire» ist kein Werk zum Fusswippen oder Mitsummen, doch das Melodram ist ein klingender, experimenteller Zeitzeuge aus einem Europa vor den Weltkriegen.
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