Berns berühmteste WohngemeinschaftRevolution, stinkende Tintenfische und ein global erfolgreiches Spielzeug
Endo Anaconda wohnte dort, und spätere Regierungsräte waren Hausgäste: Ein Buch beleuchtet die Geschichte der linksradikalen Berner Wohngemeinschaft im «67i».

«Nein… sagen ist schwer», steht auf der Fensterscheibe. Im Ladenlokal an der Neubrückstrasse in Bern werden Frisch-Teigwaren hergestellt. Daneben ist ein Solarium eingemietet, oben an der Fassade prangt ein kleines «No War»-Transparent auf den Lamellenstoren. Der 76-jährige Anton Lehmann, pensionierter Dozent an der Hochschule für Sport Magglingen, und der 69-jährige Journalist und Laufbahnberater Fred Arm stehen davor und besichtigen einen Ort ihrer Vergangenheit – einen, wo junge Menschen nach dem Motto «Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom» Widerstand gegen das System leisteten. An dieser Stelle stand bis zu seinem Abbruch 1993 ein altes dreistöckiges Haus mit Erker, Giebeldach und gestreiften Fensterläden. Lehmann und Arm haben hier in den 1970er-Jahren gelebt.
«Ich wohnte nur kurz hier, so um 1975», sagt Fred Arm und blickt auf die verkehrsberuhigte Strasse. Er habe eines der schlechten Zimmer zur Strasse hin gehabt, «da ging es morgens um fünf los mit den Lastwagen». Anton «Tönu» Lehmann kommentiert trocken: «Alle Neulinge in der WG mussten zuerst in die lärmigen Zimmer und konnten dann allmählich aufrücken.»

Die WG bot Platz für zehn Mieterinnen und Mieter. Die Küche im Untergeschoss, das Wohnzimmer im ersten Stock, die Dachterrasse sowie Badezimmer und Toiletten standen zur gemeinsamen Nutzung bereit. Rasch stadtbekannt wurde diese Wohngemeinschaft, die im Frühling 1974 gegründet wurde – als Zwischennutzung, die sich schliesslich auf fast zwei Jahrzehnte erstreckte. Hier wohnte eine Zeit lang ein künftiger Philosophieprofessor, hier gingen spätere Regierungsräte aus dem links-grünen Lager ein und aus, ein bekannter Krimiautor und ein künftiger Staatssekretär für Migration waren ebenso regelmässige Gäste wie der amtierende Rektor der Zürcher Hochschule der Künste.
Endos Dichterlesungen
Der vielleicht berühmteste temporäre Bewohner war der Anfang Jahr verstorbene Endo Anaconda, der Frontmann von Stiller Has. Er wohnte in den späten 1970er-Jahren im 67i und hielt dort in der Kellerküche regelmässig Dichterlesungen ab. «Er konnte ganze Passagen frei aus Schundromanen zitieren, trug eigene Texte vor und machte Collagen an den Wänden», erinnert sich Lehmann. Geradezu weltweit für Furore gesorgt hat ein Spiel, das im 67i von WG-Mitglied Matthias «Mättu» Etter erfunden wurde: Die Cuboro-Kugelbahn mit Rinnen und Tunneln hatte er mit geistig und körperlich behinderten Kindern entwickelt. WG-Bewohnerinnen halfen mit, das Cuboro-Spiel erfolgreich zu lancieren.

Vorher hatte das Haus als Pension für alleinstehende Männer gedient – für sogenannte möblierte Herren. Auch in der ersten Phase der Wohngemeinschaft wohnten mehrheitlich Männer hier. In den knapp 20 Jahren ihres Bestehens hatten Exponentinnen und Exponenten der Nach-68er-Bewegung, der 80er-Jugend- und der 87er-Reitschule-Bewegung hier ihr Domizil.
Einer der beiden Gründer war Anton Lehmann, damals 27-jähriger Student der Soziologie, nationaler Spitzen-Tischtennisspieler und Mitglied der Revolutionären Marxistischen Liga (RML). Die trotzkistische Partei, die in den späten 1980er-Jahren in der grün-alternativen Bewegung aufging, ist letztlich auch dafür verantwortlich, dass nun ein Buch vorliegt zur Geschichte dieser politisch und kulturell aktiven Berner Wohngemeinschaft.
2017 war eine Publikation im Entstehen über die Geschichte der RML. Als ehemaliges Mitglied bekam auch Lehmann einen Fragebogen zugeschickt. «Ich verfasste zur 67i-WG eine knappe Seite und dachte plötzlich, das wäre interessant, dem noch weiter nachzugehen.» Schliesslich führte Lehmann 60 Interviews mit ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohnern des 67i. Er lieferte die Grundlage des Buches, während Fred Arm den Text journalistisch bearbeitete, den Inhalt mit Zitaten aus den Interviews verwob und eigene Erlebnisse und Überlegungen beisteuerte.

Anton Lehmann lebte von 1974 bis 1980 in der Wohngemeinschaft, in diese Zeit fällt die Besetzung des Soziologischen Instituts an der Uni Bern, bei der der «marxistische Agitator» Lehmann federführend war und wofür er als Strafe für ein Jahr von der Universität relegiert wurde. «Lustig war daran, dass ich zwar nicht mehr an die Uni durfte, aber weiter unbehelligt als Leiter des Unisports im Tischtennis wirken konnte.»
Obwohl es zu Beginn durchaus «trotzkistische Elemente» in der WG gegeben habe, seien längst nicht alle Mitglieder der RML gewesen, sagt Lehmann. Endo Anaconda alias Andreas Flückiger war in seiner Jugend selber eine Zeit lang in einer «maoistischen Sekte» aktiv. Im Interview mit Anton Lehmann erinnerte er sich an eine Politszene im 67i, die nicht sektiererisch gewesen sei: «Jedenfalls hat mich dieses politisch bewusste Milieu in der WG inspiriert.»
Soldatenkomitee im Keller
Die gut geschulten und organisatorisch gewieften Trotzkisten, die für die permanente Revolution einstanden, hätten sich schnell mit Leuten aus der ganzen linken Politszene vermischt. Fred Arm etwa trug den «schwarz-roten Stern» und positionierte sich zwischen Leninisten und Autonomen. «Ich war eigentlich mein eigenes Programm», sagt er lachend. Er engagierte sich stark in der Unipolitik, war am Aufbau der Kritischen Uni beteiligt und Redaktor im «Berner Student». Für Arm war das 1972 gegründete Soldatenkomitee besonders wichtig, das als Reaktion auf den «repressiven Umgang» der Schweizer Armee mit kritisch denkenden Rekruten gegründet wurde und sich zu Beginn jeweils in der Kellerküche des 67i traf.
Tischtennisspieler Lehmann wiederum war im linken Milieu kritisiert worden, dass eine revolutionäre Weltanschauung nicht mit kapitalistischem Sportkommerz vereinbar sei. Auch die WG-Gründung wurde skeptisch beurteilt. Der Vorwurf lautete: Dies sei keine proletarische Wohnform, und überdies sei es gefährlich, wenn so viele Genossen zusammenlebten und so leichter zu überwachen wären. Und in der Tat: Aus den Ficheneinträgen, die nach 1989 einsehbar waren, wird ersichtlich, dass die WG regelmässig abgehört wurde.

Der Titel des Buchs nimmt darauf Bezug: «Er wohnt in einer stadtbekannten Kommune», so lautet auch der Ficheneintrag der Bundespolizei in den frühen 80er-Jahren zu einem Mitglied der Wohngemeinschaft. Einmal hiess es fast bedauernd in einer Fiche, die WG-Mitglieder würden am Telefon nicht über politische Dinge sprechen.
Eine Zeit lang war der «Hot Chair» beliebt, ein Spiel im «Grenzbereich des Psychoterrors», bei dem man auf einem Stuhl Platz nahm und sich alles anhören musste, was die anderen zu kritisieren hatten.
Ein WG-Leben kommt nicht ohne Geschichten über unterschiedliche Schmutztoleranz, kulinarische Abenteuer und das – mehr oder weniger emanzipierte – Verhältnis der Geschlechter aus: So war eine Zeit lang der «Hot Chair» beliebt, ein Spiel im «Grenzbereich des Psychoterrors», bei dem man Platz nahm auf einem Polsterstuhl, den ein WG-Mitglied von seiner Grossmutter geschenkt bekommen hatte. «Wer hier sass, war im Zentrum: Er durfte jedes Thema loswerden, das ihn bedrückte, musste sich aber auch alles anhören, was die anderen an ihm zu kritisieren hatten», heisst es im Buch.
Söhne aus gutbürgerlichen Familien lernten im 67i zu kochen und liessen sich von den Müttern einfache Rezepte geben. Ein ambitionierter WG-Hobbykoch kaufte einmal einen Tintenfisch und deponierte das tiefgekühlte Tier in der Badewanne, auf dass es langsam auftaue. Unglücklicherweise wurde der Tintenfisch vergessen und erst wieder entdeckt, als sich vom Badezimmer her ein «Gschmäckli» verbreitete. Die Delikatesse musste entsorgt werden.

Frauen waren zumindest in der ersten Phase stark untervertreten. Später kamen Studentinnen dazu, aber auch «Büezerinnen» wie eine junge Frau, die bei der Migros an der Kasse arbeitete. An ausgeprägtes Machoverhalten konnten sich die befragten Frauen nicht erinnern – mit Ausnahme von «Tarzan», wie der jamaikanische Mitbewohner genannt wurde, der gerne mit nacktem Oberkörper herumstolzierte, die Frauen anmachte und die Miete schuldig blieb, ehe er dann rausgeworfen wurde. Beim Thema «Freie Liebe» zeigten sich allerdings in der Praxis gewisse feine Unterschiede, die durchaus auch als Doppelmoral gelten können: Während sich die Männer in der Regel jede Freiheit zum Fremdgehen nahmen, kam es im 67i oft zu lautstarken Streitereien, wenn Frauen dasselbe Recht für sich beanspruchten.
«Es herrschte aber kein Geschlechterkampf», sagt Fred Arm, «wir sind meistens solidarisch miteinander umgegangen, die Probleme im Zusammenhang mit Dreiecksgeschichten oder dem Pärli-Groove gab es auch in anderen WGs.»
Die WG an der Neubrückstrasse stehe auch für die Anfänge etlicher Bewegungen und Alternativbetriebe, schreiben Lehmann und Arm und nennen Stichworte: Die Firma Basisdruck und das «Umweltlädeli» im Erdgeschoss standen für selbst verwaltete Betriebe. Es ging auch um bezahlbaren Wohnraum, einige der damaligen Hausbesetzerinnen gründeten später in Bern Wohnbaugenossenschaften. Auch die «Willkommenskultur» war bereits damals ein Thema: Einmal fand ein desertierter US-Soldat kurze Zeit in der WG Unterschlupf, ehe er dann nach Kuba ausreisen konnte. Allerdings mussten auch Leute aus der WG hinauskomplimentiert werden, wenn sie es wie etwa der mit einer WG-Bewohnerin befreundete «Langfinger-Fredy» zu bunt trieben.
Linke Rassisten?
Ein eher trauriges Kapitel wird im Buch auch aufgerollt – eines, bei dem auch Lehmann und Arm im Rückblick noch heute eine gewisse Ratlosigkeit ausstrahlen. Ausgerechnet die Mitglieder des 67i, die internationale Solidarität hochhielten und sich auch an Aktionen gegen das Apartheidsystem in Südafrika beteiligten, wurden von einem WG-Genossen des Rassismus bezichtigt.
Der afrikanische Theologe Mathieu Musey aus Zaire hatte ab 1979 im 67i gewohnt und sich dabei vorerst bestens ins WG-Leben integriert. Dann zog auch seine Frau ein, die zunehmend Mühe bekundete mit dem praktizierten Lebensstil. «Als Musey noch allein in der WG lebte, war er sehr kommunikativ», erinnert sich Lehmann, «nach dem Einzug seiner Frau wurde es komplizierter.» Sie sei verunsichert gewesen ob des Lebenswandels in der WG mit Partnertausch und regelmässigem Alkoholkonsum.

Der traurige Höhepunkt war erreicht, als das afrikanische Paar eine schwarze Seife in der Küche als Hinweis darauf interpretierte, Schwarze seien dreckig. Schliesslich zog das Ehepaar aus. Musey lebte während 17 Jahren in der Schweiz, ehe sein Asylgesuch abgelehnt wurde. Lehmann und Arm erfuhren 1988 aus den Medien, dass Musey und seine Familie in einer spektakulären Aktion ausgeschafft wurden, nachdem sie bei einer jurassischen Täuferfamilie untergetaucht waren. «Das war eine traurige, teils absurde Geschichte, die am Ende tragische Züge annahm», sagt Fred Arm.
Während die erste Generation eher pragmatisch zusammenlebte, legten die Mitglieder in der zweiten Phase ab 1980 mehr Wert auf ein internes WG-Leben.
Die Praxis des kollektiven Wohnens hat den späteren Lebensweg von ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohnern deutlich geprägt. Während die erste Generation eher pragmatisch zusammenlebte, legten die Mitglieder in der zweiten Phase ab 1980 mehr Wert auf ein internes WG-Leben. In der dritten Phase ab 1985 verband das «Projekt Reitschule» die WG-Mitglieder, die sich sogar vorstellen konnten, zusammen alt zu werden. Leute aus dem 67i prägten das Geschehen in der Reitschule, manche sprachen gar von einem «Backoffice der Reitschule-Bewegung» an der Neubrückstrasse.
Die beiden Autoren liefern in diesem ebenso unterhaltsamen wie hellsichtigen Buch nicht nur eine Chronik sowie eine Ansammlung von Anekdoten, sondern ordnen die Aktivitäten der WG-Mitglieder auch mit dem Blick der Soziologen ein. Die wichtigste Schlussfolgerung dieses besonderen Kapitels Stadtberner Kulturgeschichte: Die linksradikalen WG-Szenen wie das 67i waren «Kristallisationspunkte für urbane Bewegungen mit dem Anspruch, die Gesellschaft zu verändern».

Nach dem Abbruch der Liegenschaft 1993 fiel das damalige Kollektiv teilweise auseinander. Die meisten setzten allerdings, so ein weiteres Fazit, ihre politische Tätigkeit fort, in unterschiedlichen Wohnformen und mit sich ändernden Schwerpunkten. Fred Arm, der später auch in der Gross-WG über der Brasserie Lorraine wohnte, bezeichnet den Umgang mit ganz unterschiedlichen Menschen in der WG als «Lebensschule». Er komme heute auch gut mit Randständigen und Drogenabhängigen zurecht, «das hat auch mit dem 67i zu tun, da war man mit relativ extremen Verhaltensweisen konfrontiert». Den Abbruch der Liegenschaft 1993 haben weder Arm noch Lehmann bewusst mitbekommen. Anton Lehmann lebte damals in Biel, und Fred Arm war, wie er sagt, in dieser Zeit mehr in der «Psychologen- und New-Age-Szene» unterwegs.
Doppeltes Ja zur Lokalpolitik
Mittlerweile sind beide in der Lokalpolitik. Der ehemalige Trotzkist Lehmann ist im Vorstand der Grünen in Ostermundigen und engagiert in «höchst spannenden und lehrreichen» Klimatreffen zwischen den Generationen. Der einstige Autonome Fred Arm ist in Köniz SP-Mitglied und dort unter anderem aktiv, um die 2017 erfolgreiche Initiative für bezahlbaren Wohnraum weiter durchzusetzen.
Ende September wurde das Buch in der Reithalle vorgestellt, die Vernissage war auch ein Ehemaligentreffen. Erstmals haben sich Mitglieder des 67i aus allen drei Phasen getroffen. Im Vorfeld war die Vorfreude bei Fred Arm allerdings etwas getrübt, wie er augenzwinkernd sagt. Er sei in der Reithalle offenbar immer noch ein Begriff, wenn auch nicht unbedingt ein positiv besetzter. Ein ehemaliger Wortführer der 80er-Bewegung – Giovanni «Fashion» Schumacher, der einst mit Leuten aus dem 67i auch den Nica-Bananen-Lieferdienst Sacco & Vanzetti aufzog – habe möglicherweise mal eine Anzeige gesehen, in der er, Arm, ein Coaching für Führungskräfte anbot. «Das gefiel ihm gar nicht, dass da einer plötzlich die Manager unterstützt.»
Anton Lehmann, Fred Arm: Er wohnt in einer stadtbekannten Kommune. Verlag Edition 8 Zürich, 248 Seiten, Fr. 35.90.
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