Gasnotstand in EuropaSommaruga verspricht mehr, als sie hält
Sollte Deutschland das Gas ausgehen, droht die Schweiz ziemlich allein dazustehen. Die Hoffnungen auf ein Solidaritätsabkommen mit Berlin und Rom sind höchst vage.

Deutschland und Italien beabsichtigen, sich in Notlagen künftig gegenseitig mit Gaslieferungen auszuhelfen. Vor zwei Wochen sagte Energieministerin Simonetta Sommaruga im «Blick», sie stehe mit Berlin deswegen in Kontakt – «damit unsere Interessen berücksichtigt werden». Deutschland habe seine Bereitschaft signalisiert, die Schweiz in die Abmachung einzubeziehen. Aus Berlin kamen indes andere Töne. Wie das Klima- und Wirtschaftsministerium von Robert Habeck auf Anfrage dieser Zeitung klarstellte, besteht keinerlei Verpflichtung für einen solchen Schritt.
Es fehlen grosse Gasspeicher
Sommaruga steht unter Druck. Die Schweiz deckt ihren Energiebedarf zu rund 15 Prozent mit Gas, knapp die Hälfte davon kommt aus Russland. Etwa 300’000 Privathaushalte heizen mit Gas. Den Rest nutzen Industrie und andere Grossverbraucher. Da im Inland grosse Gasspeicher fehlen, ist die Schweiz stark davon abhängig, in welchem Ausmass Gas im Ausland verfügbar ist, insbesondere in Deutschland, von wo die Schweiz etwa 80 Prozent ihrer Lieferungen bezieht. Die Schweiz muss also darauf hoffen, dass insbesondere der nördliche Nachbar in der Lage ist, weiterhin genügend Gas zu beschaffen, sollte Russland dem Westen den Gashahn zudrehen oder die EU-Staaten ein Gasembargo gegen Russland beschliessen.
Die Aussicht auf ein Solidaritätsabkommen mit Deutschland und Italien hat in der Schweiz deshalb hohe Erwartungen geweckt. Parlamentarier, aber auch Vertreter der Gasbranche hoffen auf einen raschen Vertragsabschluss. Doch gegenüber Ständeräten sei Sommaruga im Rahmen einer Kommissionssitzung jüngst «sehr vage» geblieben, verlautet aus gut informierten Kreisen.
In der Öffentlichkeit dagegen ging Sommaruga vor einer Woche erneut in die Offensive. Im «SonntagsBlick» erklärte sie, die Schweiz habe mit wichtigen europäischen Ländern, unter ihnen Deutschland und Frankreich, bereits «eine Vereinbarung zur gegenseitigen Unterstützung» unterzeichnet. Fragt man in Berlin und Bern nach, findet man heraus, dass es sich dabei um eine unverbindliche politische Absichtserklärung handelt. Der Vertrag zwischen Deutschland und Italien wiederum wurde laut Insidern ausgehandelt, ohne dass die Schweiz daran in irgendeiner Weise beteiligt war.
Es gibt also einige Indizien dafür, dass die Schweiz noch weit davon entfernt ist, einen Vertrag für Gashilfe in der Not abzuschliessen. Eigentlich hätten Robert Habeck und sein italienisches Pendant Roberto Cingolani am vorletzten Dienstag in Berlin ihr Solidaritätsabkommen unterzeichnen sollen. Doch der Termin wurde kurzfristig abgesagt, aus «organisatorischen Gründen», wie das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz auf Anfrage schreibt. «Wir stehen mit Italien aber weiter in Kontakt.»

Ausschlaggebend für den Aufschub könnten vielmehr finanzielle Bedenken sein. Da die Gaspreise zuletzt auf Rekordniveau geklettert sind, wird es für die Energieversorger richtig teuer, die Gasspeicher für den nächsten Winter zu füllen – ohne Gewähr, das Gas danach gewinnbringend absetzen zu können; es droht ein Verlustgeschäft. Die Staaten werden also kaum darum herumkommen, die Beschaffungen zu subventionieren. Das teuer eingekaufte Gas im Notfall an andere Länder abzugeben, wie es das Solidaritätsabkommen vorsieht – diese Aussicht wirkt offenbar abschreckend.
Schweiz fehlt rechtliche Grundlage
Selbst wenn sich Italien und Deutschland fänden, bedeutete das für die Schweiz noch nicht viel. Ist Sommaruga mit leeren Händen vorgeprescht? Das nicht. Aus Verhandlungskreisen verlautet jedenfalls, es bestehe von deutscher und italienischer Seite «grundsätzlich Bereitschaft» für einen Einbezug der Schweiz. Aber: Berlin und Rom hätten klargemacht, dass die Schweiz zuerst ihre Hausaufgaben machen müsse, bevor an Verhandlungen zu denken sei.
Das Problem: Der Schweiz fehlen die rechtlichen Grundlagen, um das Abkommen umsetzen zu können. Das EU-Recht verpflichtet die Mitgliedsstaaten schon länger, als letztes Mittel zur Bewältigung extremer Mangellagen solidarisch Gas an notleidende Mitgliedsstaaten zu liefern. Die entsprechende Verordnung soll sicherstellen, dass die sogenannt geschützten Kunden stets genügend Gas erhalten; das sind Privathaushalte, aber auch soziale Einrichtungen wie Spitäler. Tritt ein Gasmangel ein, muss ein Vertragsland zuerst alle «nicht geschützten Kunden» vom Gas abkoppeln, ehe es den Solidaritätsmechanismus aktivieren kann; davon betroffen könnten dann etwa Industriebetriebe sein. Doch den Begriff «geschützte Kunden» kennt die Schweizer Gesetzgebung im Gasbereich nicht.
Deutschland und Italien indes wollen Gewissheit haben, dass die Schweiz die nicht geschützten Kunden tatsächlich abgeschaltet hat, sollte sie um Gashilfe bitten. Auch wollen sie, wie im EU-Recht vorgesehen, eine Garantie für eine «angemessene und unverzügliche Entschädigung». Die Juristen des Bundes sind derzeit daran, die Schweizer Gesetzgebung nach allen relevanten Lücken zu durchleuchten. Damit wird die Causa möglicherweise auch das Parlament beschäftigen. Das würde den Prozess in die Länge ziehen; eine schnelle Lösung würde so wohl definitiv verunmöglicht.
Stefan Häne ist Redaktor im Ressort Inland. Er schreibt und recherchiert zum aktuellen Politgeschehen in der Schweiz.
Mehr InfosDominique Eigenmann ist seit 2015 Deutschlandkorrespondent in Berlin. Nach einem Studium der Germanistik und Philosophie in Zürich und Paris begann er 1994, für den «Tages-Anzeiger» zu schreiben.
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