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Leidensweg aus der dunklen Vergangenheit
Der Missbrauchsskandal im US-Turnen warf die Opfer aus der Bahn. Der Täter ist verurteilt, nun sollen auch seine Vorgesetzten büssen.
Simone Biles ist die dominante Turnerin – mit bewegtem Lebenslauf. An der WM liegen sechs Goldmedaillen drin. Sie nutzt ihre Macht auch in Moralfragen.
Stilsicher in allen Lagen: Die 21-jährige Amerikanerin Simone Biles. Foto: François Nel (Getty Images)
Sie flippt und hüpft und wirbelt und führt so alle hinters Licht. Denn ihr federleichter Auftritt lässt glauben, das sei alles gar keine grosse Kunst. Ist es doch. Aber Simone Biles ist nun einmal keine gewöhnliche Turnerin, sie ist die beste der Welt. Wahrscheinlich: die beste der Geschichte. Erfolgreicher und dominanter, als es Nadia Comaneci, Mary-Lou Retton oder Swetlana Chorkina waren. Und vermutlich je jemand sein kann.
Mit Biles, man muss davon ausgehen, ist derzeit der sogenannte GOAT zu bestaunen: «The greatest of all time.»
Am Dienstag führte sie die Amerikanerinnen an der WM in Doha zu Teamgold. Heute greift die 21-Jährige im Mehrkampf nach dem Titel, und in den Gerätefinals ab morgen sind vier weitere Siege locker möglich. Sechs Goldmedaillen in sechs Bewerben – das ist an einer WM noch keiner Turnerin gelungen. Biles’ Bestleistung bislang: 2016 in Rio war sie vierfache Olympiasiegerin geworden.
Eine Marke im US-Sport
Nach den Spielen in Brasilien zog sich Biles vom Turnsport zurück, um die Goldmedaillen in Dollars umzuwandeln. Sie veröffentlichte eine Biografie, nahm an TV-Shows teil und küsste Schauspieler Zac Efron auf die Wange – es verlieh ihr Bekanntheit weit über den Kreis der Sportfans hinweg. Ein Matratzenhersteller wurde ihr erster Sponsor nach den Spielen, mit Hershey’s (Schokolade), Caboodles (Schminke) oder Beats (Kopfhörer) gewann sie populäre Firmen, und Turngerätehersteller Spieth brachte eine Simone-Biles-Kollektion für daheim heraus. «Trainiere wie Simone», heisst sie.
Biles wurde zur Marke im US-Sport, vor allem der Vertrag mit Nike trägt massgeblich dazu bei. Biles’ Jahreseinkommen wird auf mehr als zwei Millionen Dollar geschätzt. Keine andere Turnerin und kein Turner verdient so viel. 3,3 Millionen User folgen ihr auf Instagram, sie rangiert damit auf einer Stufe mit Michael Phelps und deutlich vor Tiger Woods.
Drogenabhängige Mutter
Es ist ein erstaunlicher Weg, den die 1,42 Meter grosse Turnerin hinter sich hat. Geboren wurde sie in ärmlichen Verhältnissen in Ohio. Der Vater verliess die Familie früh, die Mutter war alkoholabhängig und drogensüchtig, der Staat entzog ihr das Sorgerecht. Als Biles drei war, zogen sie und ihre jüngere Schwester Adria zum Grossvater und dessen zweiter Ehefrau nach Texas. Und dort, in einem Vorort von Houston, ging sie mit sechs auch erstmals zum Turnunterricht.
2012 trat sie dann national in Erscheinung, als sie an den US-Meisterschaften Bronze im Mehrkampf und am Boden gleich Gold errang. Ein Jahr später gewann sie neben dem Mehrkampf Silber an allen Geräten. Es folgte das Aufgebot für die WM 2013 – und eine Einladung auf die Karolyi-Ranch. Das Trainingszentrum in der texanischen Provinz, aufgebaut und geführt von den legendären Comaneci-Trainern Marta und Bela Karolyi, diente USA Gymnastics (Usag) als Basis für das Nationalkader. Auf der Ranch traf Biles aber nicht nur auf erstklassige Trainingsbedingungen, sondern auch auf Doktor Larry Nassar. Der langjährige Usag-Chefarzt missbrauchte sie – wie mehr als 350 andere Turnerinnen. Im Laufe des spektakulären Prozesses gegen den Triebtäter im vergangenen Januar, der in eine mehr als 300-jährigen Haftstrafe mündete, wagte auch Biles den Gang an die Öffentlichkeit.
USA Gymnastics geriet in die Kritik, zu lasch mit den Vorwürfen gegen Nassar umgegangen zu sein – oder ihn gar geschützt zu haben. Biles nutzte ihre Popularität, um den Verband in Moralfragen in die Pflicht zu nehmen. Nachdem im September Mary Bono als Präsidentin eingesetzt worden war, tauchten Tweets auf, in denen sie Footballer Colin Kaepernick verhöhnt. Dieser hatte die Bewegung unter Sportlern lanciert, zur Nationalhymne zu knien, um auf Polizeigewalt gegen Schwarze aufmerksam zu machen. Nachdem ihn Nike zur neuen Werbefigur ernannt hatte, filmte sich Mary Bono, wie sie das Nike-Logo auf ihren Golfschuhen übermalte.
Sie stürzte die Präsidentin
Biles reagierte sofort. «Ich bin sprachlos. Es ist ja nicht so, dass wir eine schlaue Präsidentin oder Sponsoren oder sonst etwas brauchen», schrieb sie auf Twitter. Vier Tage später trat Bono zurück. «Man muss hinstehen, wenn man an etwas glaubt», sagte Biles daraufhin.
Der skandalgeschüttelte Turnverband hat das Glück, dass die Leistungen von Biles und ihren Teamkolleginnen in Doha alles überstrahlen und weitere Rechtsstreitigkeiten eher im Hintergrund laufen. «Biles ist der Leader, den USA Gymnastics gebraucht hat», schrieb «USA Today» kürzlich: «Der Verband scheint unfähig, gute Entscheidungen zu treffen. Es ist also an Biles, diese Rolle zu übernehmen. Und sie tut das so effektiv wie auf der Turnfläche.»
Sie selbst hatte einmal gesagt: «Ich bin kein Star, ich bin nur Simone Biles.» Oder, auf ihre olympischen Erfolge angesprochen: «Ich bin nicht der neue Michael Phelps oder der neue Usain Bolt. Ich bin die erste Simone Biles.» So einfach ist das. So einfach ist es anscheinend auch, nach zwei Jahren ohne Wettkampf gleich wieder die Konkurrentinnen zu dominieren.
Artur Dalaloyan (RUS) siegte an der WM in Doha im Mehrkampf-Final knapp vor Xiao Ruoteng aus China. Nach je sechs Geräten lagen Dalaloyan und Xiao Raoteng gleichauf, der 22-jährige Dalaloyan setzte sich dank der besseren Ausführung der Übungen durch. Die Schweizer Oliver Hegi und Pablo Brägger klassierten sich als 16. und 21. Beide Schweizer vergaben eine bessere Platzierung wegen missglückter Übungen zum Abschluss am Pauschenpferd. Hegi hatte bereits zum Auftakt an den Ringen einen Sturz verzeichnet, Brägger missriet auch die Übung am Barren. (sda)
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