«Wenn es um Gewalt geht, wird oft nur Symbolpolitik betrieben»
Alle zwei Wochen wird wegen häuslicher Gewalt eine Person getötet. Doch der politische Wille für Gegenmassnahmen fehlt, sagt Terre des Femmes Schweiz.

Simone Eggler, alle zwei Wochen wird eine Person im Rahmen häuslicher Gewalt getötet, das zeigt die neue Polizeiliche Kriminalstatistik des Bundes. Gegenüber dem Vorjahr ist dies ein Anstieg um ein Drittel. Wie kommt das?
Über die letzten Jahre waren immer wieder Schwankungen zu verzeichnen. Zwischen 2009 und 2018 wurden zwischen 19 und 36 Personen getötet. Mit 27 Opfern liegt die aktuelle Zahl in dieser Spannbreite. Das Schockierende daran: Die Zahlen sinken nicht, und das über all die Jahre. Jede Person, die wegen häuslicher Gewalt getötet wird, ist eine zu viel.
Welches Muster kann man bei diesen Tötungsdelikten erkennen?
Häusliche Gewalt ist vor allem Gewalt gegen Frauen und Mädchen, sei es Gewalt mit oder ohne Todesfolge.
Terre des Femmes Schweiz fordert die längst überfällige Umsetzung von Massnahmen gegen Gewalt an Frauen und Mädchen. Was fordern Sie genau?
Zuerst muss Gewalt gegen Frauen und Mädchen als eine Form von Gewalt überhaupt erkannt und anerkannt werden. In der Schweiz gibt es diese Perspektive bisher kaum, und die bestehenden Massnahmen und Strukturen sind nicht auf Gewalt gegen Frauen und Mädchen, sondern auf häusliche Gewalt ausgerichtet. Die bisherigen Errungenschaften zur Eindämmung häuslicher Gewalt sind wichtig, Feministinnen haben stark dafür gekämpft. Doch nun gilt es, diese weiter zu verbessern und um die Gewalt gegen Frauen und Mädchen zu ergänzen.
2017 hat die Schweiz die Istanbul-Konvention ratifiziert, ein Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Zu was hat sich die Schweiz damit verpflichtet?
Der Bund muss auf allen Ebenen Massnahmen gegen Gewalt gegen Frauen und gegen häusliche Gewalt ergreifen und sie konsequent und mit genügend Ressourcen umsetzen. Vier Hauptstützen sind hier zu nennen: Prävention, Opferschutz, Strafverfolgung und ein koordiniertes Vorgehen.
Im April 2018 ist die Konvention in der Schweiz in Kraft getreten. Wie steht es mit der Umsetzung?
Wir sehen erste positive Effekte, wie zum Beispiel die vermehrte Zusammenarbeit zwischen staatlichen Stellen, aber auch bei NGOs. Doch das grosse Problem ist der fehlende Willen von Politik und Verwaltung auf Bundes- und Kantonsebene, wirklich die notwendigen Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Es fehlt an Geld an allen Ecken und Enden: Die Frauenhäuser haben nicht genügend Betten und können keine Barrierefreiheit bieten. Das Mädchenhaus Biel wird nicht finanziert. Es gibt kein 24-Stunden-Beratungsangebot für die ganze Schweiz. Präventionsprojekte erhalten kaum Geld. Und das sind nur wenige Beispiele. Schlimmer noch: Es wird an allen Ecken und Enden gespart. Die Gleichstellungsbüros sollen abgeschafft werden, die Interventionsstellen Häusliche Gewalt müssen um ihre Existenz bangen.
Wie sieht es auf der rechtlichen Ebene aus?
Auch auf rechtlicher Ebene fehlt es am politischen Willen, Gesetze zu ändern. So haben geflüchtete Frauen, die auf der Flucht Gewalt erlebten, aufgrund des Opferhilfegesetzes keinen Anspruch auf Unterstützung durch Beratungsstellen. Frauen, die in der Ehe Gewalt erleben, riskieren bei einer Trennung immer noch die Ausweisung aus der Schweiz.
«Das grosse Problem ist der fehlende Willen von Politik und Verwaltung auf Bundes- und Kantonsebene, wirklich die notwendigen Ressourcen zur Verfügung zu stellen.»
Es scheint also ein grundlegendes Problem bei der Umsetzung von Massnahmen zu geben.
Ja. Wenn es um Gewalt geht, wird oft nur Symbolpolitik betrieben, indem beispielsweise am Strafmass etwas geändert wird. Wenn es jedoch um konkrete Massnahmen geht, die zwar viel effektiver wären, aber eben etwas kosten, dann finden sich aktuell nur schwierig Mehrheiten. Aber wenn wir es in der Schweiz wirklich ernst meinen mit der Bekämpfung von Gewalt, dann müssen wir auch die entsprechenden Finanzen zur Verfügung stellen – sonst sind dies nur leere Worte.
Welche Parteien helfen bei der Gewaltverhinderung an Frauen, welche nicht?
In den letzten Jahren hat das Bewusstsein für Gewalt gegen Frauen und Mädchen bei Vertreterinnen aller Parteien zugenommen, dies nicht zuletzt auch aufgrund von eigenen Erfahrungen beispielsweise im Bundeshaus. Leider sind jedoch noch nicht genügend Politikerinnen und Politiker aus den bürgerlichen und rechten Parteien bereit, nicht nur Strafverschärfungen, sondern auch effektiven Massnahmen, die eben kosten, zuzustimmen. Deshalb reicht es oft nicht für Mehrheiten. In den staatlichen Verwaltungen sind aufgrund der Istanbul-Konvention immer mehr Stellen involviert, vom Bundesamt für Statistik bis zum kantonalen Migrationsdienst – aber wie konkret diese die Verpflichtungen auch tatsächlich umsetzen, wird sich noch zeigen. Die Bereitschaft dazu ist aktuell sehr unterschiedlich.
Trotzdem, einen Erfolg gab es zu verzeichnen: Im Dezember 2018 stimmten National- und Ständerat dem Bundesgesetz für die Verbesserung des Schutzes gewaltbetroffener Personen zu. Bisher hatten Opfer das Recht, eine sogenannte Desinteresseerklärung abzugeben – Behörden mussten dann von einer Strafverfolgung des Täters absehen und die Gerichte dieser Erklärung folgen. Mit dem neuen Gesetz kommt Behörden eine grössere Verantwortung zu, über den Fortgang eines Verfahrens zu entscheiden. Die Hoffnung: Dass mehr Gewalttäter verurteilt werden. Was halten Sie davon?
Dieses Gesetz hat tatsächlich Verbesserungen gebracht, wie eben bezüglich der Sistierung des Strafverfahrens, deren Änderung hin zu einer Entlastung der Betroffenen wir unterstützt haben. Hingegen bedauern wir sehr, dass das Parlament die Verpflichtung zur Weiterbildung von Behörden zur Gewaltthematik nicht im Gesetz verankert hat.
Doch hat es diese Neuerung ins Gesetz geschafft: Im Falle, dass ein Strafverfahren sistiert wird, können Behörden beschuldigte Personen dazu verpflichten, an einem Lernprogramm gegen Gewalt teilzunehmen. Wie wichtig ist diese Arbeit mit Tätern?
Die Arbeit mit gewaltausübenden Menschen ist ein wichtiger Teil der Gewaltprävention. Es ist wichtig, dass diese freiwilligen oder verpflichtenden Angebote genauso wie die Arbeit mit den Betroffenen genügend Ressourcen haben, damit sie niederschwellig und für alle zugänglich sind. Schlussendlich landen wir immer wieder bei derselben Frage: Wann ist die Schweiz bereit, genügend Geld dafür zur Verfügung zu stellen, dass Gewalt gegen Frauen und Mädchen und häusliche Gewalt ernsthaft und effektiv verhindert werden können? Bis heute macht sie dies nicht.
Wie steht die Schweiz im internationalen Vergleich da, wenn es um häusliche Gewalt und Gewalt gegen Frauen geht?
Wo die Schweiz bezüglich Massnahmen steht, wird sich zeigen, wenn sie zur Istanbul-Konvention Bericht erstatten muss und wir so einen direkten Vergleich mit den anderen Staaten haben. Betreffend der Opfer orientieren wir uns nicht am Vergleich zu anderen Ländern, sondern am Ziel, dass es keine häusliche Gewalt und Gewalt gegen Frauen und Mädchen mehr gibt. Und hier hat die Schweiz, wie alle anderen Länder, noch einen langen Weg vor sich. Dies zeigt die Kriminalstatistik, aber auch andere Zahlen. Gleichzeitig sind wir konfrontiert mit einer schlechten Datenlage. Daten über Gewalt gegen Frauen und Mädchen müssen endlich gesondert erfasst werden. Das ist wichtig, um eine Handlungsgrundlage zu haben.
Wo sehen Sie die Wurzel des Problems der häuslichen Gewalt und der Gewalt gegen Frauen?
Bei der fehlenden Gleichstellung. Geschlechterrollen und -stereotypen können zu Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt führen. Da ist viel Präventionsarbeit nötig. Das können öffentlichkeitswirksame Kampagnen sein. Schulen sollten das Thema stärker in Lehrpläne und Unterrichtsmaterialien einfliessen lassen. Doch wie erwähnt, gerade bei der Gleichstellung wird gespart.
Was brauchen Frauen zuallererst, wenn sie von häuslicher Gewalt betroffen sind?
Niederschwellige Angebote, Orte, wo sie ohne Hürden Hilfe bekommen, wenn sie einmal den Entscheid gefasst haben, Hilfe zu holen. Frauenhäuser und spezialisierte Beratungsstellen sind genau darauf ausgelegt. Es fehlt jedoch an einem professionellen 24-Stunden-Beratungsangebot für die ganze Schweiz, wo Betroffene telefonisch und online, in verschiedenen Sprachen wie auch in Gebärdensprache einfach und jederzeit Unterstützung finden. Das gibt es bis heute nicht und ist auch nicht geplant von staatlicher Seite.
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