Historikerin im InterviewWollte die Schweiz wirklich eine Atombombe entwickeln?
Paul Scherrer leitete die frühe Kernforschung und spionierte für den US-Geheimdienst. Historiker sagen, er habe die Bombe bauen wollen. Stimmt das? Antworten von Buchautorin Monika Gisler.

Frau Gisler, es heisst, die Schweiz sei in den Jahren nach 1945 auf dem Weg zur Atombombe gewesen, mit dem Physiker Paul Scherrer als treibende Kraft.
Tatsächlich hat sich Scherrer im Auftrag des Militärdepartements mit der Atombombe beschäftigt, und zwar als Präsident der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gegründeten Studienkommission für Atomenergie, der SKA. Aber dass er versucht hätte, die Atombombe zu entwickeln, stimmt so nicht.
Warum nicht? In später bekannt gewordenen Geheimdokumenten zum militärischen Auftrag der SKA wird die Entwicklung von Atomwaffen thematisiert.
Der Auftrag war, die Machbarkeit einer Atombombe zu prüfen. Das ist schon etwas anderes. Dass der Auftrag geheim war, machte die Sache entsprechend brisant, vor allem für spätere Historiker, die darin einen eindeutigen Auftrag sahen, eine Atombombe zu bauen. Heute wissen wir, dass sich die SKA nur am Rande damit beschäftigt hat. Den dort versammelten Wissenschaftlern war rasch klar, dass dies die Kapazitäten eines kleinen Landes wie der Schweiz gesprengt hätte. Das Nachdenken über eine mögliche Atombombe lief letztlich ausschliesslich auf theoretischer Ebene ab.
Das heisst: Konkrete Pläne zur Entwicklung der Bombe gab es in der Schweiz nie?
Nein. Wie gesagt, Paul Scherrer und seine Kollegen hatten das schon früh als Utopie erkannt. Sie wussten, dass die Schwierigkeiten zu gross gewesen wären. Es waren dann vor allem Vertreter des Militärs und der Politik, die lange an der Idee einer Schweizer Atombombe festhielten. Letztlich kam die Schweiz der Entwicklung einer Atombombe nie sehr nahe.
Warum nicht?
Dies hat verschiedene Gründe. Paul Scherrer hat zwar die Suche nach heimischem Uran vorangetrieben, aber ohne Erfolg. Später versuchte man, Uran über verschiedene Wege zu importieren. Das gelang erst Mitte der 1950er-Jahre. Ein anderer Grund war, dass das Fachwissen zum Bau einer Atombombe nicht ausgereift war. Zudem fehlte das nötige Fachpersonal.
Wie hat die Schweiz kurz nach dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki auf die Kernspaltung geblickt?
Einerseits hatten die Leute die enorme Zerstörungskraft der Atombomben vor Augen. Andererseits war man sehr rasch positiv eingestellt gegenüber dieser Technologie, nicht nur in der Schweiz. Man hat die Möglichkeiten der Energiegewinnung gesehen und wollte diese auch ausschöpfen. Die Schweiz erkannte zudem früh, dass sie sich mehr Wissen zur Kernenergie aneignen musste und gründete daher die SKA.
War Scherrer pro Atomwaffen?
Er war der Ansicht: Wenn Atomwaffen in den richtigen Händen sind, dann sind sie legitim. Hier war Scherrer ganz klar auf der Seite der USA. Er war Antikommunist.
Heisst das, dass es aus Sicht von Scherrer auch für die Schweiz legitim gewesen wäre, Atomwaffen zu besitzen?
Dazu gibt es keine überlieferten Aussagen. Aber nochmals: sie waren – nicht nur für ihn – keine Option. Man könnte sogar noch weiter gehen und behaupten: Wenn Scherrer Atomwaffen gewollt hätte, hätte er sie entwickelt. Das war aber zu keiner Zeit der Fall.
«Scherrer war bereit, seine Kollegen über den Entwicklungsstand der Atombombe in Deutschland auszuspionieren.»
Gab es in der SKA Wissenschaftler, die Atomkraft kritischer sahen als Scherrer?
Ja, der Kern- und Festkörperphysiker Jean Rossel aus Neuenburg war der kritischste unter den Kernphysikern in der SKA. Man kann Scherrer und seinen Kollegen durchaus vorwerfen, dass sie Rossel in seiner Haltung zur Atomtechnologie nicht stärker unterstützt haben.
Scherrer hat dann den ersten Atomreaktor in die Schweiz geholt. Wie ist das gelungen?
1955 fand in Genf eine grosse und wichtige Konferenz im Bereich der Kerntechnologie statt. Die USA präsentierten dort einen kleinen Reaktor, wozu sie ihn in Gang setzen mussten. Scherrer begriff sofort, dass der in Betrieb gesetzte Reaktor wegen der verstrahlten Bauteile nicht mehr in die USA zurücktransportiert werden konnte. Zusammen mit Walter Boveri von der damaligen BBC, der heutigen ABB, überzeugte er die Verantwortlichen der Schweizer Politik davon, den USA den Reaktor abzukaufen. Boveri und Scherrer gründeten dann eine Privatgesellschaft, die Reaktor AG, die der offiziellen Schweiz den Reaktor wieder abkaufte.

«Saphir», wie der Forschungsreaktor getauft wurde, kam dann nach Würenlingen. Wie wurde daraus letztlich das nach Paul Scherrer benannte Forschungsinstitut mit heute rund 2200 Mitarbeitenden?
Ein paar Jahre nach Saphir, 1968, wurde ebenfalls in Würenlingen ein Nuklearforschungszentrum angesiedelt, das Schweizerische Institut für Nuklearforschung. Das kam aus der ETH heraus. 1988 entschied man, die beiden Forschungsanstalten zum Paul-Scherrer-Institut zu fusionieren und dem ETH-Bereich einzugliedern.
Wer hat vorgeschlagen, das Institut nach Paul Scherrer zu benennen?
Das ist leider nicht mehr nachvollziehbar. Ich weiss nur, dass es keine Einwände gab. Das PSI forscht heute übrigens zu weit mehr Themen als lediglich zur Kerntechnologie.

Welches Verhältnis hatte Scherrer zum Nationalsozialismus?
Er war ganz klar ein Gegner der Nazis und arbeitete während der Kriegsjahre als Informant für den amerikanischen Geheimdienst OSS, den Vorläufer der CIA. Scherrer war bereit, seine Physikerkollegen auszuspionieren, um etwas über den Entwicklungsstand der Atombombe in Deutschland zu erfahren.
Eines der Zielobjekte war der deutsche Physiker Werner Heisenberg, den Scherrer während des Zweiten Weltkriegs einmal nach Zürich einlud.
Man nimmt heute an, dass der OSS plante, Heisenberg im Rahmen eines Vortrags an der ETH Zürich noch im Hörsaal umbringen zu lassen, falls sich zeigen sollte, dass Deutschland bei der Entwicklung der Atombombe – mit Heisenberg an der Spitze – schon weit fortgeschritten war.

Wusste Scherrer, dass er in einen möglichen Mordanschlag involviert war?
Der Auftrag, Heisenberg allenfalls umzubringen, ging an Moe Berg, einen amerikanischen Mitarbeiter des Geheimdienstes. Es ist ziemlich sicher, dass dieser beim Vortrag von Heisenberg eine Waffe in der Tasche mitführte. Ich gehe aber davon aus, dass Scherrer darüber nicht informiert war.
Aus welchen Verhältnissen stammte Paul Scherrer?
Sein Vater war Kaufmann, allerdings kein sehr erfolgreicher. Eine Enkelin meint sich zu erinnern, dass Scherrers Mutter Wäscherin war. Man nimmt auch an, dass sein Vater Alkoholiker war. Scherrers Kindheit war sicherlich nicht ganz einfach.
«Scherrer gelang es, die Physik anschaulich zu vermitteln, was ihn sehr beliebt machte.»
Es deutete eigentlich nichts auf eine akademische Karriere hin.
Nein. Wohl auf Wunsch seines Vaters besuchte er zunächst die Handels- und Verkehrsschule in St. Gallen. Er bereitete sich aber relativ rasch auf ein ETH-Studium vor und schaffte die Aufnahme. Das war 1908. Zunächst studierte Scherrer Botanik. Nach zwei Semestern wechselte er in die Physik.
Im Studium hat er auch seine spätere Frau kennen gelernt, Ina Sonderegger.
Sie kam aus besserem Haus. Ihre Eltern waren anfangs nicht sehr glücklich über diesen jungen Studenten, sie unterstützten Scherrer dann aber doch finanziell in seiner Ausbildung.
Was war Scherrer für ein Mensch?
Er war sicherlich ein sehr zugänglicher, vielseitig interessierter Mensch, betrieb verschiedene Sportarten und interessierte sich für Jazz. Als Institutsleiter an der ETH prägte er ein gesellschaftliches Leben und machte mit seinen Studierenden und Assistenten zahlreiche Ausflüge, etwa zum Skifahren. Er war zudem ein ausgezeichneter Dozent. Es gelang ihm, die Physik anschaulich zu vermitteln, was ihn sehr beliebt machte. Erst gegen Ende seiner Karriere, ab den 1950er-Jahren, wurde es wohl schwieriger mit ihm als Institutsleiter. Ehemalige Doktorierende warfen ihm vor, das Institut patriarchal zu führen und die neuen Entwicklungen zu verschlafen.

Paul Scherrer starb Ende 1969 im Alter von 79 Jahren bei einem Reitunfall. Er hatte verfügt, dass sein Nachlass im Fall seines Todes durch seine Sekretärin vernichtet wird. Warum wollte er das?
Wir wissen es nicht. Vorstellbar ist, dass er auch nach dem Krieg im Modus der Geheimhaltung dachte, was mit seiner Arbeit für den US-Geheimdienst und der SKA zu tun hatte. Man darf nicht vergessen, dass sich die Welt damals in der Hochphase des Kalten Kriegs befand.
Dennoch haben Sie jetzt versucht, alles über Paul Scherrer ans Licht zu holen, was sich noch finden liess, und haben eine Biografie über ihn geschrieben. Würde ihm das gefallen?
Ich hoffe es. Scherrer war immerhin eitel genug, dass es ihm vielleicht geschmeichelt hätte. Und schliesslich ist es ja nicht nur ein Buch über Scherrer, sondern auch über die Zeit der Weltkriege und des Kalten Kriegs und die Anfänge der Kerntechnologie.

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